Essen. .

Gedemütigt, geschlagen, sexuell missbraucht: Nach dem Bericht in der NRZ melden sich viele Opfer, die in den 1960er Jahren im Essener Kinderheim Franz-Sales-Haus untergebracht haben. Die Kirche hat die Hinweise damals offenbar vertuscht.

Die Mauer des Schweigens hält nicht mehr. Am Dienstag druckte die NRZ die Berichte von Menschen, die in den 50er- und 60er-Jahren als Kinder im katholischen Franz Sales Haus in Essen untergebracht waren. Sie erzählten von Demütigungen, von Prügeln, von Bestrafungen mit dem glühendheißen Bügeleisen, von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung durch Pfleger. Nachdem der Artikel in der NRZ stand, meldeten sich weitere Opfer. Aus anderen Kinderheimen. Aber auch aus dem Franz Sales Haus. Erschütternde Berichte. Glaubwürdige Erzählungen.

Michael Horstkötter will sich nicht länger verstecken: „Alles muss ans Licht. Es war so, wie es in der NRZ stand.” Und noch schlimmer. Horstkötter kam direkt nach seiner Geburt in ein Kinderheim. Erst nach Duisburg, später nach Essen. Am 25. November 1959 wurde er ins Franz Sales Haus gebracht. Da war der Junge sieben Jahre alt. 13 Jahre lebte er dort, litt er dort.

Un-Barmherzige Schwestern...

Ein ehemaliger Heiminsasse zeichnete die Dachbodentreppe im Franz Sales Haus. Dort wurden Kinder und Jugendliche eingesperrt.
Ein ehemaliger Heiminsasse zeichnete die Dachbodentreppe im Franz Sales Haus. Dort wurden Kinder und Jugendliche eingesperrt. © NRZ

„Das Schlimmste waren die Schläge der Nonnen”, sagt er. 60 Ordensfrauen der „Barmherzigen Schwestern von der Heiligen Elisabeth” versahen dort ihren Dienst. Rund 600 Bewohner hatte das Heim damals, viele mit Behinderungen, aber auch Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen. „Das waren ganz andere Zeiten damals”, sucht der heutige Direktor der renommierten Einrichtung nach Erklärungen für das Unfassbare. Günter Oelscher steht erst seit 2002 an der Spitze des Hauses und verspricht nun lückenlose Aufarbeitung der dunklen Kapitel aus der Vergangenheit. „Nach dem Krieg gab es kaum pädagogisch geschultes Personal.” Und der Gesellschaft war nur wichtig, dass alle, die nicht richtig funktionierten, hinter hohen Mauern verschwanden.

Auch Michael Horstkötter musste verschwinden. „Es wurde oft Kirmes gefeiert im Franz Sales Haus”, erzählt er. Das hört sich fröhlich an. Doch die Kirmes fand im Zimmer einer Ordensfrau statt. Dort wurden die Kinder, die was ausgefressen hatten oder Widerworte gaben, geschlagen: mit dem Stock, mit einem Kabel und mit einem Handfeger, in dem noch ein Nagel steckte. „Wir waren grün und blau”, erinnert sich Horstkötter. „Bunt wie eine Kirmes.”

Dann erzählt er von der „Hab-mich-lieb-Jacke”. Übereinstimmend berichten Opfer von haftähnlichen Zuständen. In Zwangsjacken gefesselt mussten die Kinder Tag und Nacht auf einer engen Dachbodentreppe ausharren. Andere Jugendliche mussten sie füttern und auf die Toilette bringen. Ein 58-jähriger Essener bestätigt das. Er war bis 1972 im Franz Sales Haus. Er schildert, was passierte, wenn jemand versuchte zu fliehen: „Wenn einer über die Mauergegangen ist und von der Polizei wieder zurückgebracht wurde, musste der sich auf einen Tisch legen. Dann wurden von den Nonnen 30 Schüler ausgesucht, die sich drumherum stellen mussten. Die schlugen dann mit Schlappen, Schuhen oder Fäusten auf den Jungen ein. Dann wurde er in die Zwangsjacke gesteckt – und ab auf die Treppe!”

Unbezahlte Zwangsarbeit

Der ehemalige Bewohner erzählt auch von unbezahlter Zwangsarbeit, vom Mattenflechten, Arbeit in Werkstätten, Putzen und Waschen der Schwerstbehinderten. Und er berichtet von sexuellem Missbrauch durch ältere Heimbewohner.

Michael Horstkötter hat auch sexuellen Missbrauch durch Erzieher erlebt. „Einen nannten wir nur den ‘Cowboy’. Er holte sich die Jungen, und die mussten ihn dann mit der Hand und mit dem Mund befriedigen.” Horstkötter berichtet davon, dass er sich mit seinen Schilderungen damals an Nonnen, einen Weihbischof, den Landschaftsverband Rheinland als Heimaufsicht und sogar an den Bischof von Essen gewandt hat.

Das Ergebnis?

Horstkötter erinnert sich daran, dass eine Pflegerin und ein Pfleger plötzlich verschwunden waren. „Es wurde alles vertuscht”, sagt er. „Und der Bischof hat mir gesagt, ich solle viel beten und Sport treiben. Dann würde ich das alles vergessen.”

Michael Horstkötter hat nicht vergessen. Und er will den Tätern von damals an einem Runden Tisch gegenübersitzen. Und dann will er sie fragen: „Warum habt ihr das getan?”