Essen. .
Die Abendsonne taucht den großen Raum im Dachgeschoss des Franz Sales Hauses in Essen in ein mildes, ein sanftes Licht. 15 Männer und Frauen sitzen um den großen Konferenztisch. Es gibt Schnittchen, Saft und Sprudel. Und dann erzählen sie ihre Geschichten von früher, als sie Kinder waren und weit weg von den Eltern. Alleine im Heim unter Nonnen. Und diese Geschichten sind anders als das Licht der Abendsonne. Nicht mild. Nicht sanft. Sie erzählen von Schlägen, von Demütigungen und von Tränen. Von Durst nach Wasser, von Durst nach Liebe. Und von sexueller Gewalt.
Seit Ende März treffen sich ehemalige Bewohner im Zwei-Wochen-Rhythmus zu Gesprächen an ihrem eckigen „Runden Tisch“. Damals hatte die NRZ erste Schilderungen von missbrauchten Heim- „Zöglingen“ abgedruckt. Viele Opfer haben sich in der Folge gemeldet. Ihre Berichte sind kaum zu ertragen. Und doch lassen die Übereinstimmungen der Aussagen keinen Zweifel zu: Im Franz Sales Haus ist Kindern in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren viel Leid zugefügt worden. Unter Aufsicht der Nonnen. Und offensichtlich auch ganz direkt und körperlich von einigen der unbarmherzigen „barmherzigen Schwestern“.
Die NRZ machte den Skandal öffentlich. Auch darum durften wir nun exklusiv an der vertraulichen Gesprächsrunde unter Leitung des Psychotherapeuten Michael Stiels-Glenn und Reinhold Huppertz vom Franz Sales Haus teilnehmen. Die Bitte vorab: Keine Fotos. Keine Namen. Schnell wird klar: Nicht alles, was seither in der Zeitung stand, hat den Betroffenen gut getan. Sie erzählen von Albträumen, die die Artikel nach 40 Jahren ausgelöst haben. „Im Schlaf gehe ich wieder durch die Reihen von Gitterbettchen mit wimmernden Kindern“, sagt einer der Teilnehmer leise.
Trotz aller Belastung tut das Reden und das Zuhören gut. Die schlimmsten Vorwürfe gegen einzelne Nonnen und Pfleger werden von Reinhold Huppertz protokolliert und an die Staatsanwaltschaft weitergereicht. Der Strafverfolgung sind Grenzen gesetzt. Manche Beschuldigte sind tot, viele der Taten sind lange verjährt.
„Schleppende Aufklärung“ stand in der Überschrift am 4. Mai auf dieser Seite. Das ist der Vorwurf einer Gruppe ehemaliger Heimbewohner um den von Nonnen misshandelten und von einem Pfleger vergewaltigten Rolf-Michael Decker. Gegen diesen Vorwurf nehmen die Teilnehmer des Rundes Tischs den Direktor des Heims energisch in Schutz: „Herr Oelscher nimmt an jeder unserer Sitzungen teil und hilft, wo es nur geht.“ Man könne ihn nicht für die Missstände der Vergangenheit verantwortlich machen. „Heute ist das Sales Haus eine tolle, vorbildliche Einrichtung.“
Die Opfer wollen die
Nonnen treffen
Dass sie dies nicht immer war - das wissen auch Professor Wilhelm Damberg und Dr. Bernhard Frings von der Ruhr-Universität Bochum. Sie studieren die Akten im Archiv des Heimes und interviewen ehemalige Heim-Insassen. „Und wir werden auch mit Betreuern sprechen“, sagt Frings. „Und hoffentlich auch mit den Ordensschwestern, die damals hier gearbeitet haben.“
Wissenschaft braucht Zeit. Ende des Jahres wollen die Forscher einen ersten Zwischenbericht vorlegen; im Sommer 2011 soll der Abschlussbericht fürs Franz Sales Haus fertig sein. Geforscht wird aber weiter, auch in anderen Heimen. „Wir müssen das im großen Zusammenhang sehen“, begründet der Professor. Ohne die billige Arbeit der Nonnen wäre damals in Heimen nichts gelaufen. Die Frauen bekamen keinen Lohn. Ausgebildet und vorbereitet wurden sie kaum. War das der Grund für Überforderung, der Auslöser für Übergriffe? Und welche Rolle spielte die Überzeugung, dass man durch Demut und Demütigungen näher an Gott heranrücke? „Im Orden waren die Frauen ja auch einem harten, strengen Regiment unterworfen“, weiß Damberg.
„Das Schlimmste war die Abwesenheit von Liebe“, ahnt Direktor Günter Oelscher. Das habe bei vielen dazu geführt, dass sie in ihrem ganzen späteren Leben Schwierigkeiten hatten, sich vertrauens voll an andere Menschen zu binden. In den Gesprächsrunden im Franz Sales Haus geht es nun darum, auch diese Spätfolgen zu lindern. Auf Wunsch werden Therapieplätze vermittelt.
Die Frage nach finanzieller Entschädigung steht hier noch nicht im Vordergrund. Einige Teilnehmer fordern die Anerkennung von mehrjähriger Arbeit in Werkstätten des Heimes. „Das würde rund 50 Euro mehr Rente im Monat ausmachen“, hat einer ausgerechnet. Allen ist aber wichtig, dass die Missstände aufgearbeitet werden, dass ihr Leiden nach vielen Jahrzehnten der Scham und des Verschweigens endlich anerkannt wird.
Und dazu soll auch die Konfrontation mit den Ordensfrauen beitragen. Einige der frommen Frauen, die in den Horrorschilderungen immer wieder eine zentrale Rolle spielen, leben immer noch im Mutterhaus im Essener Süden. „Wir wollen ihnen hier gegenüber sitzen“, fordern die ehemaligen Heimkinder. Ob es dazu kommt, ist offen. Die Oberin der „Barmherzigen Schwestern“ schirmt die Beschuldigten ab.