Hamm. .

Der Zivildienstleistende Alexander musste im Duisburger Tunnel um sein Leben kämpfen. Und um das eines Mannes, der es schließlich doch verlor.

Alexander sagt, es gehe ihm gut. Aber es gibt keine Stunde des Tages, in der er nicht daran denken muss. Und wäre da nicht dieser Rettungssanitäter gewesen, als er im Tunnel saß, verzweifelt und verdreckt wie er war, wer weiß, wie sich Alexander dann heute fühlte. „Du hast Dein Bestes gegeben! Du hast alles versucht! Mehr ging nicht!“ hatte der Sanitäter zu trösten versucht. Ihn, Alexander, der selbst in die panische Menschenmenge geraten war, der um sein eigenes Leben gekämpft hatte und schließlich um das dieses unbekannten Mannes, der am Boden lag... Jedoch vergeblich.

Eine Woche ist das her. Längst kurvt der Zivildienstleistende wieder täglich mit seinem Kleintransporter durch Hamm, chauffiert Behinderte und Reha-Patienten, als wäre nichts gewesen. Nur die halbstündigen Nachrichten auf WDR, die mag er nicht mehr hören, da schaltet er weg, auf BFBS, und lässt all die Neuigkeiten rund um Duisburg, um die Loveparade, um Schuld und Verantwortung auf Englisch an sich vorbeirauschen. „Es geht mir gut. Wirklich. Ich kann da auch darüber reden“, sagt er.

Und dann redet er, darüber wie schön dieser Tag begann. Morgens, um 10 Uhr, als er und seine Freunde sich am Bahnhof in Hamm treffen. Ausgelassen, in Partystimmung, besprühen sie sich ihre Haare grünglitzernd. Auf zur Loveparade! Zur ersten in Alexanders Leben. Weißes T-Shirt, dreiviertellange weiße Hose. Genau das richtige Outfit für diese Party an einem leichten Sommertag. Die mit ihnen im Zug sitzen, sind jung wie sie. Bald feiern sie, einige stimmen die Fangesänge der Fußballer an. „Eine Superstimmung war das. Schon im Zug“, sagt Alexander.

In Duisburg am Bahnhof angekommen, sind sie noch zusammen. Alexander und seine Freunde, 20 Leute mögen sie sein. Es ist 12.30 Uhr, als sie Richtung Loveparade losziehen. „Wir folgten einfach der Masse, blieben mal hier stehen, mal da und waren sicher, schon irgendwie dahin zu kommen“, erinnert sich der 20-Jährige. Irgendwann ist drei Stunden später, da stehen sie an der Polizeisperre vor dem Tunnel am Güterbahnhof. Eine weitere halbe Stunde vergeht mit Warten, dann sind sie dran. Rein in den Tunnel. Noch ist es nicht voll hier, noch ziehen sie locker hindurch. Aber sie verlieren sich zwischen all den Menschen.

„Ich war plötzlich allein“, sagt Alexander und erzählt, wie er am Ende des Tunnels die Böschung hochklettert, um seine Freunde per Handy anzurufen, um sie von oben besser suchen zu können. Einer von ihnen hatte diese gelbe Perücke auf. Der musste doch zu finden sein. Doch das Handy bekommt kein Netz, und die Freunde sind nicht zu erkennen. Stattdessen hat Alexander einen ersten Blick auf die Loveparade. „Da passte alles. Der alte Güterbahnhof, die Graffitis, die Floats, die Musik. Eine gelungene Party“, schwärmt er immer noch.

16.50 Uhr muss es gewesen sein, als er die Böschung wieder herunterklettert. Von oben sieht die Menschenmenge noch ganz entspannt aus. Alexander will auf das Festivalgelände, die Freunde suchen. Was dann passiert, versteht er selbst kaum. „Ich wurde plötzlich in die Menschenmassen hereingezogen, wie weiß ich nicht. Links war doch noch genug Platz!“. Die Masse treibt ihn auf den Tunnel zu, auf die Wand. Sich mit den Händen dort abstützend, sich Platz zum Atmen verschaffend, erreicht er bald die Metalltreppe, an der später die vielen Toten gefunden werden sollten. So nah kommt er heran, dass er helfen kann, andere dort hochzudrücken. Selbst auf die Treppe zu gelangen, schafft er nicht. Der Druck wird immer massiver, rundherum beginnen Menschen hysterisch zu schreien.

„Was dann war, weiß ich nicht mehr. Plötzlich lockerte sich die Menge, Security-Leute in blauen T-Shirts tauchten auf und ich sah Menschen am Boden liegen“, erinnert er sich. Erschöpfte Menschen, nach Atem ringende, reglose.

Im Wechsel reanimieren
sie den Mann am Boden

Und dann liegt da dieser Mann. Alexander sieht einen anderen neben ihm kniend, ihn reanimieren: „Ohne groß nachzudenken, begann ich, ihn zu beatmen“. Im Wechsel pumpen sie, zählen bis 30, beatmen. Ein Sanitäter kommt, hört mit seinem Stethoskop das Herz das Mannes ab, stößt ein „Macht weiter!“ hervor und eilt davon.

Drei, vier Mal kommt der Sanitäter noch zu ihnen: „Macht weiter!“. An das Gesicht des Sterbenden erinnert sich Alexander nicht: „Ich sah nur, dass er leichenblass war und seine Augen riesengroß“. Sie kämpfen um sein Leben. Dann setzt die Erinnerung erneut aus. Vielleicht hat jemand zu ihm gesagt, dass es keinen Zweck mehr hat. Jedenfalls sitzt Alexander plötzlich im Tunnel, tief im Innersten erschüttert: „Ich hab mich scheiße gefühlt, hab mir Vorwürfe gemacht.“

Immer wieder sprechen ihn Sanitäter an, Polizisten, fragen, wie es ihm geht. Und der eine, der sagt diese für ihn so wichtigen Sätze: „Du hast alles versucht! Mehr ging nicht!“