Seit den 90er Jahren steigt die Zahl der sicherungsverwahrten Straftäter. Allein in NRW hat sie sich verdreifacht. Experten glauben jedoch, dass viele Menschen zu Unrecht ein Leben lang weggesperrt werden. .

Der Apfelkuchen in Zelle 203! Wäre dies ein Suchbild, in dem es einen Gegenstand zu finden gälte, der nicht zu allen anderen passt, dann fiele er sofort auf. Gestern hat er ihn gebacken, prall gefüllt mit Apfelstücken, und nun steht er angeschnitten in diesem unwirklichen Raum. Er backt also, mag Apfelkuchen, denkt man und lässt den Blick gleiten über die sterilen elfeinhalb Quadratmeter Gefängnis. Da ist nichts Persönliches. Es ist, als wolle er sich hier nicht einrichten. Dabei muss er bleiben. Denn Rudi S.* befindet sich in Sicherungsverwahrung. Weggesperrt, vielleicht für immer.

Rudi S. ist einer von rund 150 Sicherungsverwahrten in nordrhein-westfälischen Ge-fängnissen. Einer, dem Gutachter attestierten, er sei ein Hangtäter und so gefährlich, dass man ihn nach Verbüßung seiner Haftstrafe besser nicht freilasse. Es ist ein altes Gesetz, auf dem solche Entscheidungen fußen. Ent­wickelt in der Weimarer Republik, erstmals angewandt von den Nazis, erlebt es seit den 90er-Jahren einen Boom. Getrieben von einem gesteigerten öffentlichen Sicherheitsbedürfnis und einer daraus resultierenden neuen Lust am Strafen, verdreifachte sich die Zahl der in NRW Weggesperrten.

Rudi S. ist einer, der in der gefängnisinternen Hierarchie ganz unten steht. Auch unter den 68 Männern, die hier in Werl nach ihrer Haft vielleicht ein Leben lang hinter Gittern bleiben müssen. Als er 41 Jahre alt war, hat er, der Sozialarbeiter, der Judotrainer aus Solingen, ein zwölfjähriges Mädchen missbraucht. Sexualtäter, Pädophile ohnehin, gelten in Gefängnissen als das Letzte. „Es war nicht richtig, was ich getan habe. Ich habe in die Sexualität eines Kindes eingegriffen. Gerade als Pädagoge hätte ich es besser wissen müssen”, sagt Rudi S.. Er sei depressiv gewesen, habe in einer persönlichen Krise gesteckt. Seine Freunde, sie hätten ihm so etwas nicht zugetraut. Es ist seine Sicht der Dinge, die er da schildert.

Normalität ersehnt

Jeans, gelbes Polohemd, das graue Haar seitlich gescheitelt. Rudi S. gibt sich intellektuell, zitiert den „Spiegel”, sagt, dass er sich nach Gesprächen mit intelligenten Menschen sehnt. So wie danach, bei Freunden auf der Couch zu sitzen, Kaffee zu trinken und über „andere Dinge zu sprechen”. Rudi S. ist im Gefängnis, aber er ist kein Häftling. Als Sicherungsverwahrter genießt er Privilegien. Seine Zelle ist etwas größer und tagsüber nicht abgeschlossen. Wenn er wollte, könnte er sie mit eigenen Möbeln einrichten und beim Anstrich der Wände zwischen vier Pastelltönen auswählen. Er darf selbst kochen, hat mehr Taschengeld und längere Besuchszeiten.

Seit vier Wochen hat Rudi S. einen neuen Anwalt. Er kämpfe darum, neu begutachtet zu werden und endlich wieder frei zu sein. „Ich will leben, will meine alten Werte zurück”, sagt er. Und er hat Freunde aus alten Zeiten, die ihn regelmäßig besuchen. Das gilt nicht für jeden hier in Werl.

Ein paar Zellentüren weiter wohnt Herr K., den Gefängnisleiter Michael Skirl einen „ehrlichen Räuber” nennt. Ehrlich wohl deshalb, weil er zu seinen Taten steht, sie nicht im Nachhinein biegt und wendet. Herr K., ein massiger, tätowierter Bartträger, hat von 59 Lebensjahren 40 im Gefängnis verbracht. Zuerst in Haft und nun weggesperrt. „Haus 2 mit den Sicherungsverwahrten hat durchaus etwas von einem Altenheim. Hier werden die Männer alt, und manche wollen auch gar nicht mehr in die Freiheit zurück”, sagt Gefängnisleiter Skirl.

Herr K. ist so einer, der nicht mehr raus will. Wohin auch? Draußen kennt er niemanden. Früher lebte er auch im Gefängnis ganz zurückgezogen, heute spielt er mit Herrn S., einem Finanzbetrüger, auch schon mal Backgammon. Herr S., der schon 65 ist und nach eigenem Bekunden „früher ein erfolgreicher Un-ternehmer aus dem Ruhrgebiet”, kann gar nicht verstehen, dass einer hier nicht weg will. Auch S. klammert sich an die Hoffnung, mit Hilfe eines neuen Gutachtens schon bald wieder draußen zu sein. Draußen, wo jene Frau wartet, die er vor zwei Jahren im Gefängnis kennenlernte. Michael Skirl wiegt skeptisch den Kopf. Er weiß, dass viele sich etwas vormachen.

Komplizierte Regelungen

Nur eine Handvoll Leute, Juristen zumeist, kennt sich mit den gesetzlichen Gegebenheiten der Sicherungsverwahrung in Deutschland überhaupt noch aus. So kompliziert sind die Regelungen, die über Freiheit oder Wegsperren bestimmen. Seit 2004 gibt es neben der im Urteil schon angeordneten Sicherungsverwahrung und der darin vorbehaltenen auch noch die nachträgliche. Letztere wurde im Dezember 2009 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Verstoß gegen die Menschenrechte beurteilt.

Michael Skirl, Werls Gefängnischef, sagt: „Führende forensische Gutachter beklagen selbst, dass sie jede Menge Falschpositive liefern”. Menschen also, die als Sicherheitsrisiko eingestuft werden, obwohl sie nach Verbüßung der Haft keines mehr sind. „Eine große Zahl der Leute ist ohne Not in der Sicherungsverwahrung oder immer noch drin”, so Skirl. Niemand „Ernstzunehmendes aus der Wissenschaft” bestreite das.

Längst wird im Justizministerium in Berlin an einer Reform der Sicherungsverwahrung gearbeitet, die bald öffentlich gemacht werden soll. „Wenn jemand trotz Vollverbüßung der Haftstrafe sein Leben hinter Gittern verbringen soll, muss man das auf die Grundrechte abklopfen”, er- klärt Ministeriumssprecher Ulrich Staudigl.

Heinsberg, Essen. Wann immer ein vermeintlich noch gefährlicher Täter aus der Haft entlassen wird, schlagen die Emotionen in der Bevölkerung hoch. „Wegschließen, für immer!” erscheint manchem als Lösung aller Probleme. Für Herrn K. mag das in Ordnung sein. Er kennt es nicht anders, hat abgeschlossen. Einen Kühlschrank zu haben, seinen Wellensittich namens Bruce Lee, das genügt ihm. Das ist mehr als er jemals draußen hatte. Aber nicht jeder Sicherungsverwahrte ist wie Herr K. * Name geändert