Ruhrgebiet. Heimbewohner kommen oft kaum noch raus. Ein neues Angebot in vielen NRW-Städten bringt sie an die frische Luft - und unter Menschen.

Fertig zum Abheben. Wilhelm Ehrmann geht zur hintersten von sieben E-Rikschas in der kleinen Fußgängerzone von Neukirchen-Vluyn und erklärt dem Fahrer das Funkgerät: „Wenn was ist, dann drückst du hier drauf und sprichst.“ Weiter vorn schaut Erich Jännert ein letztes Mal in den Himmel und die Wetter-App und gibt den Start dann quasi frei: „Wir kriegen keinen Regen. Das zieht alles nach Nordwesten ab.“ Vorne in den Rikschas sitzen 14 alte Leute, jeweils zwei in einer und sich ein kleines bisschen auf der Pelle, doch die Stimmung ist erkennbar besser als normalerweise in einer Economy Class: „Ich bin die Ulla!“ „Danke. Renate!“

Endlich, endlich kommen sie mal wieder raus. Im April waren ja so viele Ausfahrten geplatzt. Zu kalt. Zu nass. Zu wechselhaft. Man sitzt ja doch recht ungeschützt in diesen offenen Rikschas. Aber jetzt. Endlich. Fertig zum Abheben.

„Radeln ohne Alter“ zählt rund 150 solcher Initiativen in Deutschland

Es geht über Straßen mit wenig Verkehr. In der Regel können sich die Fahrgäste das Ziel aussuchen. Häufig hat es mit ihrer Lebensgeschichte zu tun.
Es geht über Straßen mit wenig Verkehr. In der Regel können sich die Fahrgäste das Ziel aussuchen. Häufig hat es mit ihrer Lebensgeschichte zu tun. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Kurz nach halb drei startet die exotische Kolonne im Dorfzentrum von Vluyn im äußersten Westen des Ruhrgebiets, fädelt sich in den Verkehr auf der Hauptstraße ein, biegt links ab Richtung Kirche und dann raus aufs Land. Dort radeln die sieben Piloten und Pilotinnen, wie sie sich alle hier nennen, die großen Dreiräder über eher ruhige Land- und Nebenstraßen („Anlieger frei“); schnell im engeren Sinne sind sie nicht, es soll ja nichts passieren vorne mit den Passagieren. Etwa eine Stunde plus Kaffeepause geht es für die Fahrgäste heute raus. Endlich Wind in den Haaren statt verbrauchter Luft im Aufenthaltsraum. Und wie versprochen, bleibt auch der Regen aus. „Ju-Hu!“

Die sieben Rikschas von Neukirchen-Vluyn sind gar nicht so exotisch, wie es zunächst scheint: Andere kreisen in Hattingen und Sprockhövel, praktisch in jeder großen Revierstadt gibt es sie, aber auch in Witten, Lünen oder Moers. Sie sind auch keine Taxi-Konkurrenz, kein Uber auf drei Rädern. Sondern dahinter steht ein bundesweiter Dachverband mit Sitz in Bonn, hervorgegangen aus einem Verein in Berlin, der nach einer Idee aus Dänemark . . . Um das abzukürzen: Der Dachverband heißt ,Radeln ohne Alter („Roa“)‘ und listet für ganz Deutschland etwa 150 gleichgesinnte Initiativen auf. „Jede und jeder hat das Recht auf Wind im Haar“ heißt ihr sympathisches Motto, doch man ahnt es schon: Das Radeln, so schön es ist, ist nur Mittel zum Zweck.

„Die Kommunikation ist wichtiger als die Route“

„Radeln ohne Alter“ entstand vor knapp zehn Jahren in Berlin, inzwischen ist es in ganz Deutschland verbreitet.
„Radeln ohne Alter“ entstand vor knapp zehn Jahren in Berlin, inzwischen ist es in ganz Deutschland verbreitet. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

„Es geht natürlich darum, die Senioren und Seniorinnen mobiler zu machen, aber wir wollen die Menschen auch näher zusammenbringen“, sagt Natalie Chirchietti, die Geschäftsführerin von ,Radeln ohne Alter‘. Einer der Hattinger ,Piloten‘ sagt es so: „Die Kommunikation ist wichtiger als die Route.“

Einmal habe er eine Frau aus einem Hospiz ausgefahren, sie wollte unbedingt nochmal an die Ruhr, an jene Stelle, wo bis in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine Fähre Hattingen und Bochum verband - die sie oft genommen hatte. Die alte Dame erzählte dort aus ihrem Leben, ihre Nichte machte Fotos. Als die Frau starb, fand man auf ihrem Nachttisch ein Bild von dem Ausflug.

Die Fahrgäste sind in der Regel Bewohner und Bewohnerinnen von Heimen und Behinderteneinrichtungen, die Nachfrage ist vielerorts größer als das Angebot. Aber natürlich können sich auch Menschen von Zuhause melden. „Wir haben es schon oft erlebt, man kommt dann zu den Leuten, und die sagen: Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr draußen gewesen. Einsam ist man ruck-zuck“, sagt Wilhelm Ehrmann.

Wilhelm Ehrmann hat die Gruppe in Neukirchen-Vluyn 2020 ins Leben gerufen.
Wilhelm Ehrmann hat die Gruppe in Neukirchen-Vluyn 2020 ins Leben gerufen. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Der frühere Lehrer Ehrmann (70) hat die Roa-Gruppe von Neukirchen-Vluyn 2020 ins Leben gerufen und unter dem Dach der gutherzigen „Tu-was-Genossenschaft“ verankert, „damit sie weiterbesteht, wenn ich nicht mehr bin, was ja nicht mehr so weit ist“. Inzwischen gibt es in der Kleinstadt 70 Piloten und Pilotinnen, die Hälfte von ihnen fährt ziemlich regelmäßig, und werktäglich ist mindestens eine Rikscha auf der Straße, meistens sogar mehr. Unsere kleine Kolonne ist längst auf dem Rückweg. Das bleibende Bild: Vorne strahlen zwei in die immer noch sonnige Landschaft, hinten tritt einer für sie kräftig in die Pedale. Und fühlt sich auch noch gut dabei. Typische Win-win-Rikscha.