Mönchengladbach. Die Polizei findet die drei versteckt im Wald: dreckig, verfroren, voll blauer Flecken. Warum 50-Jähriger das Urteil „eine Ehre“ nennt.

Erst suchte sie das Jugendamt, dann die Polizei: Die fand die drei verwahrlosten Kinder (damals 6, 5 und 3 Jahre alt) im Wald. Monate schon wohnte die Familie in einem kleinen Zelt, ihr Waschbecken ein Eimer, die Toilette ein Baumstamm, die Kleidung in Plastiktüten vom Discounter. Die Mutter kam in die Psychiatrie, ist seit ihrer Entlassung untergetaucht, der Vater wird nun in Mönchengladbach verurteilt: Der 50-Jährige, der schon einmal vier ältere Kinder aus erster Ehe entführt hatte, soll für zwei Jahre und acht Monate in Haft, weil er nach Überzeugung des Amtsgerichts seine Schutzbefohlenen vernachlässigt und misshandelt hat.

Axel H. hält sein Plädoyer selbst, weil er seinem Anwalt „nicht mehr vertraut“. Und einmal mehr gibt er alles zu, ohne aber einzusehen, dass er etwas falsch gemacht haben könnte. Im Gegenteil: Er habe die Kinder gezüchtigt, wie es in der Bibel steht. Körperverletzung, wie ihm die Staatsanwältin vorwirft, sei das aber nicht gewesen: „Der Schmerz war sofort weg“, behauptet er – es finde keine Verletzung des Körpers statt, wenn man mit dem Gürtel zuschlage. Die Methode sei „besser als Stubenarrest“.

Kein Vertrauen: Seinen Schlussvortrag hält der Angeklagte selbst

Mehrmals zitiert der bärtige Mann im Sweatshirt aus seiner dicken schwarzen Bibel, die er zu jedem der fünf Prozesstage mitbrachte; die Stellen hat er farbig markiert. Römerbrief, Sprüche, Hebräer: Man solle Kinder züchtigen und Gott mehr gehorchen als den Menschen, steht dort oder „Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er“. Er findet, man müsse ihn freisprechen, sagt aber auch: „Wenn ich hier verurteilt werde, ist das eine Ehre. Denn ich weiß, ich bekomme meinen Lohn von Gott.“ Nicht er, der Staat mache sich schuldig, er selbst halte sich an die Gesetze – „nur nicht, wenn sie gegen Gottes Gesetze sind“.

Die wichtigsten Bibelstellen hat der Angeklagte mit Textmarker in Orange und Grün angestrichen. In seinem Schlussvortrag liest er Zitate vor.
Die wichtigsten Bibelstellen hat der Angeklagte mit Textmarker in Orange und Grün angestrichen. In seinem Schlussvortrag liest er Zitate vor. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Schuld für die Probleme und Traumata, die seine Kinder laut Gutachtern noch drei Jahre nach ihrem Auffinden haben, schiebt er von sich. Die kämen vom Aufenthalt im Heim. Und durch die Entfremdung von den Eltern, die man ihnen entzogen habe. Der Angeklagte erwähnt freimütig, er habe seine vier Kinder aus erster Ehe genau so behandelt, „bei denen ist auch kein Schaden entstanden“.

Er antwortet damit Punkt für Punkt den Ausführungen der Staatsanwaltschaft, die er „lächerliches Zeug“ nennt. Dabei hält Anne Nettel-Polaki den Angeklagten gar nicht für böswillig, er glaube ernsthaft, das Richtige getan zu haben nach seinem Glauben. Aber: „Sie haben den Kindern sämtliche Freuden einer schönen Kindheit vorenthalten.“ Denn die lebten nicht nur monatelang im Wald, der Älteste ging auch nicht zur Schule, keines hatte jemals Kontakt zu Gleichaltrigen. „Die Kinder“, sagt Schöffenrichter Carsten Conrad später, „kannten quasi nur Sie.“ Sie seien lebensfremd aufgewachsen. Alle drei wussten offenbar nicht einmal, was ein Eis ist. Die Anklägerin haben solche Aussagen besonders bewegt, auch die der Kinderärztin, die vor Gericht mit den Tränen kämpfte.

Kinder trugen keine Schuhe an den rotgefrorenen Füßen

Als die Polizei das Trio entdeckte, war es Oktober 2020. Bei herbstlichen zwölf Grad trugen die zwei Jungen und das kleine Mädchen Jogginghosen, Unterhemden und an den rotgefrorenen Füßen keine Schuhe. Dreckig sollen sie gewesen sein und durstig, voller Ekzeme. Krusten und blaue Flecken auf dem Rücken erzählten von den Schlägen, die der Vater völlig normal findet: Er habe seinen Nachwuchs erziehen und ihm Gehorsam beibringen wollen, besonders dem mittleren Sohn. Alle Welt, argumentiert er im Gerichtssaal, rede von kriminellen Jugendlichen, „und dann bestrafen Sie Menschen wie mich, die sich bemühen, ihre Kinder gut zu erziehen, ihnen Gutes zu tun“. Mindestens wöchentlich soll er den Gürtel gezückt haben.

Erst auf einem Friedhof, dann im Wald nahe der Autobahn: Hier fand die Polizei drei verwahrloste und frierende kleine Kinder.
Erst auf einem Friedhof, dann im Wald nahe der Autobahn: Hier fand die Polizei drei verwahrloste und frierende kleine Kinder. © picture alliance/dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Kinder seit Jahren isoliert, der Älteste ging nicht zur Schule

Die Kinder hätten emotionslos gewirkt, erzählten die Retter später, das Mädchen mit seinen drei Jahren nur einzelne Wörter sprechen können. Mindestens drei Monate muss die fünfköpfige Familie in dem Waldstück in der Nähe der leerstehenden Niederrheinkaserne zwischen Mönchengladbach und Viersen gelebt haben, direkt an der Autobahn 52, und vorher schon an einem anderen Ort. Man sei zu fünft ausgezogen aus der Mietwohnung, hatte der Vater erklärt, weil PCB, Dioxine und andere Gifte, auch die elektromagnetische Handystrahlung der Nachbarn sie krank gemacht hätten. Das Leben „in der Natur“ habe er als Ausweg gesehen.

Als der Älteste nicht in der Schule angemeldet wurde, schlug das Jugendamt, das die Familie ohnehin betreute, Alarm, zeigte den Vater wegen „akuter Kindeswohlgefährdung“ an. Inzwischen ist den Eltern das Sorgerecht entzogen worden, die Jungen leben noch im Kinderheim, ihre Schwester nahm eine Pflegefamilie auf. Es sei „erstaunlich“, sagt Staatsanwältin Nettel-Polaki, „wie die Kinder sich trotzdem entwickelt haben“.

Vater schlug seine Kinder mit dem Gürtel – und beruft sich auf die Bibel

Es dauerte lange, bis das Gericht ein Hauptverfahren eröffnen konnte; nachdem die Kinder befreit waren, waren die Eltern zunächst untergetaucht. Erst im Januar dieses Jahres, mehr als drei Jahre später, stellte sich der Vater der Polizei, berichtet er selbst. Schon zum ersten Prozesstag im März war er mit der Bibel in der Hand im Amtsgericht erschienen, stellte Anträge um Anträge gegen den Richter, die Zeugen, seinen eigenen Anwalt. Nach einer Entführung seiner vier Kinder aus erster Ehe 2012 war er schon einmal verurteilt worden, ein zweites Mal wegen unterlassener Hilfeleistung bei der Hausgeburt seiner Tochter. Damals brachte er Mutter und Kind trotz massiver gesundheitlicher Probleme nicht zum Arzt, das Baby kam erst nach Tagen mit nur noch 30 Grad Körpertemperatur und massiv dehydriert ins Krankenhaus.

Schon jetzt läuft der Prozess länger als ursprünglich geplant: das Gerichtsgebäude in Mönchengladbach. Kommt es am Mittwoch zum Urteil?
Schon jetzt läuft der Prozess länger als ursprünglich geplant: das Gerichtsgebäude in Mönchengladbach. Kommt es am Mittwoch zum Urteil? © picture alliance/dpa | Roberto Pfeil

Seine Kinder, behauptete der 50-Jährige, hätten keine Angst vor ihm, sondern Respekt. Er habe sie alle geschlagen, auch seine Frau, diese aber „nur“ mit der Hand. Die Mutter der Kinder kam nach der Episode im Wald zunächst in die Psychiatrie, ist inzwischen ebenfalls untergetaucht. Vor Gericht bittet ihr Mann nun um die Entlassung aus der Haft: Er müsse sich um sie kümmern, sie sei obdachlos, es gehe ihr „sehr schlecht“. Die Kinder hatte das Jugendamt ihm schon früher einmal weggenommen, sie aber wieder in die Familie gelassen. Es gab Zweifel, auch bei der Kinderärztin, aber wohl keine Beweise. Dass er das Sorgerecht nun doch verlor, bezeichnet der siebenfache Vater als eine „Sünde vor Gott“.

Zwei Söhne leben im Kinderheim, die Tochter in einer Pflegefamilie

Ein Gutachter erklärte den Mann im April für schuldfähig, und das sieht auch das Schöffengericht so. Es verurteilt ihn wegen Körperverletzung in drei Fällen und Vernachlässigung Richter Carsten Conrad nennt den Angeklagten für einen „Überzeugungstäter“: „Wenn man Sie heute rauslassen würde, würden Sie genau da weitermachen, wo Sie damals aufgehört haben.“ Axel H. habe „ganz erheblich“ auch gegen die Rechte der Kinder verstoßen. Die hätten Anspruch auf eine Kindheit ohne Schmerzen. Und: „Die Religionsfreiheit hört da auf, wo die Grundrechte Ihrer Kinder anfangen.“