Dortmund. Immer mehr Schüler machen Abi mit immer besseren Noten. Die Dortmunder Bildungsforscherin Nele McElvany erklärt, wie sich das Abitur verändert.

„Heute hat Rechtschreibung nicht mehr so ein Gewicht“, sagt Nele McElvany, Leiterin des Lehrstuhls für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Was sich beim Abitur mit den Jahren noch verändert hat, erklärt die Bildungsforscherin im Gespräch mit Laura Lindemann.

Wie hat sich das Abitur in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Das Abitur hat sich in verschiedenen Aspekten verändert. Die Grundkompetenzen Deutsch, Mathemathik und Fremdsprachen sind zwar immer noch genauso relevant wie vor Jahrzehnten. Allerdings haben sich ansonsten natürlich im Laufe der Zeit viele Regelungen und Inhalte verändert. Ein wichtiger Aspekt sind die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz, die inzwischen für alle Bundesländer gelten, und auch die Regelungen zum Zentralabitur mit einem gemeinsamen Aufgabenpool für die Abiturprüfung. Heute machen außerdem mehr Menschen Abitur.

Woran liegt das?

Früher hatten wir das klassische dreigliedrige Schulsystem mit der Hauptschule, der Realschule und dem Gymnasium. Das Abitur war ein Privileg des Gymnasiums. Und dort waren vor allem Kinder aus bessergestellten Schichten. Heute haben wir eine Vielfalt an Bildungswegen und Schulformen, die diesen Abschluss anbieten. Und mehr Schülerinnen und Schüler schaffen den Schritt von der Grundschule auf das Gymnasium und am Ende auch das Abitur.

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Heute erreicht – je nach Bundesland etwas unterschiedlich – fast die Hälfte eines Jahrgangs die Hochschulreife. Stehen Schülerinnen und Schüler stärker unter Druck, Abitur machen zu müssen?

Wenn man die fachgebundene Hochschulreife und die Absolventinnen und Absolventen von beruflichen Schulen hinzuzählt, beträgt der Anteil der Absolventinnen und Absolventen mit Allgemeiner Hochschulreife rund 40 Prozent. Die allgemeinbildenden Schulen verlässt etwa ein Drittel mit Abitur. Ja, das Abitur steht für viele berufliche Möglichkeiten und geht mit gesellschaftlicher Anerkennung und der Hoffnung einher, dadurch später im Beruf ein höheres Einkommen und Prestige zu erreichen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das andere Wege aktuell in der Öffentlichkeit weniger anerkannt werden als sie das sollten. Zudem gibt es heute auch mehr Ausbildungsberufe, die ein Abitur voraussetzen. Das wiederum ist ein ganz praktisches Problem für junge Menschen.

Die Durchschnittsnoten haben sich zuletzt, mit Ausnahme des letzten Jahres, konstant verbessert. Im Jahr 2014 lag die durchschnittliche Abinote in NRW bei 2,49, im Jahr 2022 kamen die Abiturienten im Schnitt auf eine 2,35. Mehr Abiturienten, die im Schnitt bessere Noten bekommen: Ist es heute einfacher, das Abitur zu bestehen?

Es gibt keine Studien, die genau das empirisch untersuchen. Aus anderen Studien wissen wir aber, dass sich die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler insgesamt nicht verbessert haben – teilweise haben sie sich eher verschlechtert, wie zum Beispiel die IGLU-Studie zeigt. Abgesehen vom Abitur gibt es Schülergruppen, die heute noch nicht einmal die Mindeststandards erreichen. Für die verbesserten Noten gibt es sicher viele mögliche Gründe in Bezug auf Inhalte, Bewertungen und Regelungen. Ein gutes Beispiel für Veränderung ist sicher auch die Rechtschreibung, früher ein selbstverständlicher Anspruch, es wurde genau darauf geachtet. Heute hat das nicht mehr so ein Gewicht.

Was steht heute im Fokus?

Schule ist heute mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert. Wenn es darum ging, allen eine Bildungskarriere zu ermöglichen, hatte man früher das „Arbeitermädchen vom Land“ im Blick, bei denen Lehrkräfte Eltern vielleicht erst von einem guten Schulabschluss und vielleicht sogar einem Studium überzeugen mussten. Die schulische Bildungsbenachteiligung von Mädchen haben wir inzwischen sicher überwunden und auch das Land ist nicht mehr abgehängt von höherer Bildung. Aber heute sehen wir in der Bildungsstatistik – um in den zugespitzten Bildern zu bleiben – viele Herausforderungen für den „migrantischen Jungen aus der Stadt“. Die sozialen Ungleichheiten sind im Bildungssystem nach wie vor vorhanden, viele Kinder haben Sprachförderbedarf und in städtischen Regionen gibt es viele Schulen in sehr herausfordernden Umfeldern. Der Sprachförderbedarf hat wiederum Auswirkungen auf den gesamten Unterricht. Die Lehrkräfte müssen etwa häufig Sprachförderung mit in den Fokus nehmen.

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Und auch Familien sind heute mit anderen Herausforderungen konfrontiert – heutzutage arbeiten zum Beispiel häufiger beide Elternteile. Nicht immer wird darauf geachtet, ob der Schulranzen gepackt, die Hausaufgaben gemacht oder das Butterbrot morgens gegessen wurde. Diese Themen landen dann in den Schulen.

Die Digitalisierung ist sicher auch eine Herausforderung.

Ja, natürlich. Lehrkräfte müssen lernen, sie im Unterricht technisch und inhaltlich anzuwenden. Gleiches gilt für die Schülerinnen und Schüler. Der Lernprozess ist häufig mit kürzeren Texten und digitalen Anwendungen ein anderer. Durch Systeme wie ChatGPT bekommen die Schülerinnen und Schüler viel mehr Inhalte vorgegeben, anstatt sich Aufgaben selbst zu erarbeiten. Wenn sie dann in der Abitur-Prüfung sitzen und alleine einen langen Text verfassen sollen, kann das für einige schwierig sein. Auf der anderen Seite kommen Schülerinnen und Schüler heute viel schneller an Informationen, als es früher der Fall war.

In NRW überlegt das Schulministerium, ein fünftes Abiturfach einzuführen. Darin sollen Schülerinnen und Schüler etwa in Form von Präsentationen oder Projektarbeiten geprüft werden. Was halten Sie davon?

Die Diskussion darum, dass Abiturfächer angepasst werden müssen, gibt es gefühlt schon immer. Ich erinnere mich zum Beispiel auch an frühere Debatten über Präsentationsprüfungen oder über Informatik. Grundsätzlich gilt aber ja, dass wir die jungen Menschen auf ihr weiteres Leben vorbereiten wollen - da sind Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften schon noch immer wichtige Grundkompetenzen. Egal, mit welcher gesellschaftlichen Veränderung oder Technik man gerade konfrontiert ist.

Die jungen Menschen, die heute Abitur machen, wissen doch gar nicht, wie sich der Arbeitsmarkt künftig verändert und was sie in zehn Jahren leisten müssen. Lebenslanges und selbstständiges Lernen zu ermöglichen halte ich deshalb für wichtiger, als neue Abitur-Fächer zu etablieren. Und das kann etwa über einen Deutschaufsatz gelingen, indem wir über Inhalt und Aufbau nachdenken, den Text schreiben und über das Thema reflektieren. Schließlich bildet das Abitur auch einen Leistungsprozess ab, der über zwei Jahre kontinuierlich stattgefunden hat und an dessen Ende mehrere große Leistungsprüfungen stehen.

Inwieweit wird sich das Abitur künftig verändern?

Wir stehen erst am Anfang einer großen Veränderung – ohne zu wissen, was in zehn Jahren sein wird. Ich denke da vor allem an die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz auf das Bildungssystem und die Frage, was diese Entwicklung für unsere Inhalte und Vorgaben bedeuten wird.

Zudem steht jede Generation vor eigenen Herausforderungen. Heute beschäftigen sich die jungen Menschen mit der Klimakrise und damit, ob sie für Klimaschutz auf die Straße gehen sollen. Sie erleben Unsicherheit in Bezug auf Kriege, Krisen und wirtschaftliche Fragen, Anfechtungen unseres sozialen Zusammenhalts und demokratischen Grundkonsens. Das wird alles auch künftig noch weiter Thema in den Schulen sein. das Abitur ist ohne Zweifel eine wichtige Phase, aber mit Blick auf die unterschiedlichen Herausforderungen müssen wir vor allem auch die Zeit davor verstärkt in den Blick nehmen.

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