Münster. Westlotto zeigt das Zimmer, in dem Träume wahr werden. Was Neu-Millionäre erst lernen müssen – und wofür sie Taschentücher brauchen.

Glück lässt sich selten mit Geld kaufen, aber mit Geld um Glück zu spielen, das geht. Für fast 1,8 Milliarden Euro im Jahr kreuzen Menschen in NRW Zahlen auf einem Zettel an, dabei macht das, wissen sie in der Zentrale von Westlotto in Münster, eigentlich „gar keinen Spaß“. Die Leute tippen, weil sie träumen: davon, dass sich ihr Leben verändern könnte mit einem Hauptgewinn. Tatsächlich wird alle zwei Tage in Deutschland jemand Lottomillionär – aber dieses neue Leben beginnt ziemlich nüchtern.

Es gibt keinen Schampus und keinen Blumenstrauß in diesem kühlen Büro. Nur Taschentücher auf einem schwarzen Tisch. Falls die Gefühle überschäumen, in dem „auf einmal wahr wird, was man nicht für möglich gehalten hat“, sagt Unternehmenssprecher Axel Weber: ein Lottogewinn. Dies ist Zimmer 05 der Zentrale von Westlotto in Münster, „Gewinnerbetreuung“, Zutritt nur für die Allerwenigsten, Namen bleiben geheim. Hierher kommen „hochgradig nervöse“ Menschen, wenn ihre Zahlen auf dem Tippschein dieses eine, erhoffte, unglaubliche Mal stimmen. Weshalb sie als erstes einen weiteren Tipp bekommen: „Bewahren Sie Ruhe.“

Ziehung der Lottozahlen, die allererste: Das Mädchen Elvira bekam im Oktober 1955 ein Mittagessen dafür.
Ziehung der Lottozahlen, die allererste: Das Mädchen Elvira bekam im Oktober 1955 ein Mittagessen dafür. © Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG | HANDOUT

Plötzlich Millionär? Ruhe bewahren und erstmal nachdenken

Sie müssen nicht herkommen, sie müssen nicht auch tun, was der Betreuer ihnen sagt. „Wir dürfen nicht entscheiden, was die Gewinner wollen“, sagt Weber. Alles verprassen, eine Villa kaufen, verschenken? Westlotto berät nur, man nennt diese Phase die „Nachspielzeit“: Denken Sie drei Wochen nach, reden Sie möglichst nicht darüber. Sie empfehlen die Villa nicht unbedingt, weil dann Bekannte und Verwandte nicht mehr mitkommen könnten mit dem neuen Lebensstil. „Da zerbrechen Sozialkontakte.“ Auch große Summen zu verschenken, sei nicht ratsam: Man bringt andere in eine Art Abhängigkeit, „der Knacks ist nicht heilbar“. Lieber erzählen, dass man 300.000 Euro gewonnen hat, das klingt nicht so gewaltig wie ein oder zwei Nullen mehr. Ein neues Konto wäre gut, besonders auf dem Dorf: Was, wenn der Sparkassenmitarbeiter weitererzählt, dass Herrn Müller oder Frau Meier plötzlich ein paar Millionen überwiesen wurden?

Denn das Geld, das es zu gewinnen gibt, wird immer mehr. Um 500 oder gar Tausende Euro spielen die Menschen nicht, weiß Weber. Zwei, drei Millionen laufen auch bei Westlotto inzwischen unter „geringer Betrag“. Das liegt daran, dass die Zahl der Einsätze steigt – und nicht der Einsatz selbst: Die meisten setzten immer dasselbe, „um ihren kleinen Traum zu behalten“. Nach einer Gehaltserhöhung mehr investieren? Das gibt es nicht, sagt Lotto-Sprecher Weber. Aber die Erwartungshaltung sei gestiegen. Wenn ich einmal reich wär‘!

Lottogewinn: Die meisten Menschen arbeiten trotzdem weiter

„Gewonnen habe ich noch nie“, behaupteten trotzdem eigentlich alle, obwohl das nicht stimmen kann, wenn statistisch jeder NRW-Bürger viermal im Jahr gewinnt. Und der, der seinen Gewinn nicht abholt, ja nichts davon weiß. Wobei ja längst nicht jeder überhaupt spielt und überhaupt erst ab Mitte 30, wenn die Menschen im Berufsleben stehen und merken: Millionär werde ich sonst wohl nicht mehr. Aber wenn dann plötzlich doch? „Wie man mit so viel Geld umgeht, müssen die Leute lernen.“ Die Allermeisten übrigens regeln mit einem Gewinn ihre Altersvorsorge und die ihrer Nachkommen. Oder sie spenden für soziale Zwecke in ihrem Umfeld. Den Job hinschmeißen? Wagen die Wenigsten.

Der technische Leitstand von Westlotto in Münster: Hier wissen die IT-Spezialisten oft schneller als der Telefonanbieter, wenn es in der Leitung hakt.
Der technische Leitstand von Westlotto in Münster: Hier wissen die IT-Spezialisten oft schneller als der Telefonanbieter, wenn es in der Leitung hakt. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Vielleicht haben sie 1,70 Euro ausgegeben, als „Belohnung“ zum Ende der Woche, wie andere Leute sich Schokolade gönnen oder einen guten Wein. Dabei „macht das Ankreuzen an sich keine Freude“, wie Axel Weber sagt. Es sei schließlich nicht wie am Spielautomaten, den man glaubt, bezwingen zu können. Nicht wie beim Kartenspielen, das man doch irgendwie können muss. Nicht wie bei Wetten, wo man Recht behalten will. Es gehe auch nicht um das Geräusch der Kugeln oder den Akt der Ziehung (der übrigens nicht in Münster läuft). „Lotto ist das einzige Glücksspiel, das null Spaß macht ohne Geld“, das nicht einmal Nervenkitzel ist oder eine nette Freizeitbeschäftigung. „Es geht um die Zeit zwischen Schein und Ziehung, in der die Menschen träumen, dass sie diesmal den Jackpot knacken.“

Tippschein: meist mit Zahlen, die im Leben glücklich gemacht haben

Für die meisten ist Lotto deshalb ein Ritual, immer derselbe Einsatz, immer dieselben Zahlen. Die sind oft sehr persönlich. Der Hochzeitstag, die Geburt der Kinder, Geburtstage – Daten, die im Leben glücklich gemacht haben. Weber hat einst zwei Brüder weinen sehen, als sie zufällig feststellten, dass sie seit 40 Jahren dieselben Zahlenreihen ankreuzten: die ihrer Eltern, beide. Die hatten sie teils schon von den Großeltern übernommen. „Zahlen werden vererbt.“

Die allererste, jemals gezogene war übrigens die 13. Das ist nun keine Glückszahl, aber wirklich wahr: Das Mädchen Elvira zog sie 1955, und noch fünf andere Zahlen. Elvira war keine Lottofee, man holte sie aus dem Kinderheim an die Kugeln. Es gab ein warmes Mittagessen dafür. Noch bis Ende des letzten Jahrtausends saßen in zwei riesigen Sälen in Münster mittwochs und freitags mehrere Hundert Frauen, um die Zahlen von Hand zu übertragen. Es waren die Zeiten, als freitags die Lieferwagen mit rollenden Körben voller Lottoscheinen die Rampe in die Zentrale hinauffuhren. Klar, dass das heute starke Server übernehmen; das Rechenzentrum an der Weseler Straße ist unterirdisch mit einem geheimen zweiten ein paar Kilometer entfernt verbunden.

Diese Woche im Jackpot: Unternehmenssprecher Axel Weber zeigt, was es bei der nächsten Ziehung zu gewinnen gibt.
Diese Woche im Jackpot: Unternehmenssprecher Axel Weber zeigt, was es bei der nächsten Ziehung zu gewinnen gibt. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Fahndung: Lottomillionär verzweifelt gesucht

Wer was gewinnt, wissen neben dem Computer nur sehr wenige Menschen. Wenn sie es nicht selbst erzählen, wie einst Lotto-Lothar oder jüngst Chico aus Dortmund. Geld übergeben wird außer kleinen Beträgen nie, auch im Gewinnerzimmer nicht. Für Lotto-Sprecher Axel Weber ist das nicht immer leicht, der muss „zweimal pro Woche sagen, es hat jemand gewonnen, aber nicht wer, wie viel und wo“. Es sei denn, es wird jemand gesucht. Schein verlegt, gewaschen, vergessen, es ist schon alles vorgekommen. Dann fahndet der Glücksspielbetreiber nach dem Glückspilz, trägt ihm seinen Traum hinterher. Zur Not drei Jahre lang. Einen, der 8,4 Millionen nicht abholte, fanden sie am Ende über ein Plakat.

>>ZAHLEN UND FAKTEN ZUM LOTTO

Alle zwei Tage wird in Deutschland jemand Lotto-Millionär. Alle neun Stunden gewinnt jemand einen fünfstelligen Betrag. Um eine solche Chance zu haben, zahlen Menschen in NRW im Jahr knapp 1,8 Milliarden Euro (1,796 Mrd.) ein, für zusammen bis zu fünf Millionen Tippscheine in der Woche. Beliebtestes Spiel ist nach wie vor der Klassiker 6 aus 49 (841,3 Mio).

Das Lottoprinzip, ein Landesgesetz, sieht vor, dass die Hälfte dieses Geldes an die Spieler ausgeschüttet werden muss. 2023 waren das also 886 Millionen Euro. 40 Prozent aller Einnahmen gehen an das Land zurück, und zwar für das Gemeinwohl: Das waren im vergangenen Jahr 727 Millionen Euro für den Sport (mit 32,7 Mio. bekommt den größten Batzen der Landesportbund), für Wohlfahrtsverbände, für Kultur bis hin zu den Dombauvereinen. Auch Bürgerinnen und Bürger, die nicht Lotto spielen, profitieren also. Seit der Gründung von Westlotto 1955 sind mehr als 31,5 Milliarden Euro aus Lotteriegeldern an solche sozialen Zwecke in NRW geflossen.

Im „Forum“ der Westlotto-Zentrale in Münster wurden bis vor 25 Jahren die angekreuzten Zahlen noch von Hand übertragen.
Im „Forum“ der Westlotto-Zentrale in Münster wurden bis vor 25 Jahren die angekreuzten Zahlen noch von Hand übertragen. © Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG | HANDOUT

Von den restlichen zehn Prozent wandert der allergrößte Teil an die mehr als 3000 Annahmestellen im Land. Dort sind rund 15.000 Menschen beschäftigt. Seit 2023 hat Westlotto 48 Millionen Euro in die Modernisierung der Lottogeschäfte gesteckt. Ein Schein, der hier abgegeben wird, ist innerhalb von 300 Millisekunden auf vier Westlotto-Servern gespeichert, theoretisch könnten die Rechenzentren 350.000 Transaktionen pro Sekunde verarbeiten.