Ruhrgebiet. Die Inflation trifft vor allem Familien hart. Kleidung, Lebensmittel, Freizeit: Der WAZ-Familien-Check zeigt die dramatische Lage im Ruhrgebiet.
Jede vierte Familie im Ruhrgebiet muss an Spielsachen sparen – das ist ein Ergebnis unserer Familien-Check-Umfrage. Für Kleidung und Lebensmitteln geben sogar fast 30 Prozent aller teilnehmenden Familien weniger Geld aus. An der Online-Erhebung haben etwa 8000 Mütter und Väter teilgenommen, sie ist allerdings nicht repräsentativ. Die Zahlen erzählen von der Lage der Familien in unserer Leserschaft – und sie zeigen das Ausmaß, in dem die Teuerung die Menschen im Ruhrgebiet trifft.
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„Ich glaube, die Umfrageergebnisse des Familien-Checks geben ein realistisches Bild wieder“, erklärt Christian Woltering, Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW. „Wir müssen davon ausgehen, dass die schlechten Zahlen aus unserem Armutsbericht von 2022 sich weiter dramatisiert haben. Das betrifft vor allem Bürgergeldempfänger, und ungefähr die gleiche Zahl an Menschen mit niedrigem Einkommen.“
Jeder Vierte unter 18 Jahren ist in Deutschland von Armut betroffen
Nach den jüngsten Zahlen leben 14,1 Millionen Deutsche unter der Armutsschwelle, das ist fast jeder Sechste. Erweitert man den Blick um soziale Kriterien, ist laut Statistischem Bundesamt sogar jede vierte Person unter 18 Jahren von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen.
Das sieht auch Muna Hischma als „Alarmsignal“. Sie leitet bei der AWO Westliches Westfalen die Abteilung Soziales: „Armut hat immer ein Risiko für altersgerechte Entwicklung. Das fängt mit der Ernährung an, geht aber bis hin zur sozialen Teilhabe. Es geht in der Jugend auch darum, zu einer Gruppe zu gehören, die sich über bestimmte Dinge definiert.“ Wenn man sich ständig ausgeschlossen fühle, so Hischma, – zum Beispiel, wenn nach den Sommerferien über den Urlaub geredet wird –, dann könne das weit reichende Folgen haben für den gesamten Lebenslauf.
NRW-Familienministerin Josefine Paul: „Familien beim Urlaub entlasten“
NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne) erklärt auf Anfrage dieser Redaktion, dass das Land Familien etwa beim Urlaub entlaste. „Damit Familien mit geringerem Budget sich vor allem auch in schwierigen Zeiten den so wichtigen Erholungsurlaub leisten können, fördern wir die Familienerholung in Familienferienstätten“, so Paul. Zudem fördere das Land etwa Beratungsangebote für Familien. Paul: „Gerade in schwierigen Lebenslagen brauchen sie Anlaufstellen und Angebote, die sie in vielfältiger Weise stärken.“
Tatsächlich sparen rund 70 Prozent Familien vor allem beim Urlaub sowie bei Restaurant- und Kneipenbesuchen. Natürlich zeigt der Familien-Check auch lokale Unterschiede. In Heiligenhaus müssen etwas mehr als die Hälfte der Menschen am Urlaub sparen, in Oberhausen knapp drei Viertel. Auch für Freizeitaktivitäten fehlt vielen Familien das Geld. Über die Hälfte müssen sich hier einschränken, in Gelsenkirchen sind es sogar rund 58 Prozent.
„In den meisten armen Familien sparen die Eltern zuerst bei sich selbst und zuletzt bei ihren Kindern“, sagt Woltering – „ganz im Gegensatz zum Klischee vom teuren Fernseher und von den Zigaretten.“ Er kann genau wie Hischma von Kindern berichten, die in der Kita-Pause ohne Butterbrot dastehen, die im Winter mit Sommerschuhen und ohne wärmende Jacke kommen, die nicht in Sportvereinen angemeldet werden und die krankgemeldet werden, wenn ein Kindergeburtstag ansteht – „weil man sich das Geschenk nicht leisten kann“, so Woltering. „Kinder merken es, wenn die finanzielle Stabilität fehlt. Das kann das auf die Psyche große Auswirkungen haben.“
„Wir haben schon vor Corona festgestellt, dass mehr Kinder und Jugendliche unter psychischen Beeinträchtigungen leiden“, sagt Muna Hischma. „Das reicht von psychosomatischen Symptomen über depressive Störungen bis hin zu Ängsten.“ Sie rät dazu, in allen sozialen Institutionen noch stärker das Thema in den Blick zu nehmen. „Es geht darum, Armut zu erkennen und sensibel zu behandeln. Das fängt mit Besuchen nach der Geburt an und geht über die Kita und Schule bis zum Eintritt ins Berufsleben. In unseren Jugendwerkstätten kommen junge Menschen hungrig in die Einrichtung und sind dankbar, wenn morgens ein Müsli angeboten wird.“
Kinderarmut: Mehr junge Menschen haben schlechte Startbedingungen
„Die Lebensrealität von armen Familien hat sich deutlich verschlechtert durch die Pandemie und die Preissteigerungen infolge des Ukraine-Krieges“, bestätigt Woltering. „Die positive Entwicklung, die wir in den 10er-Jahren erlebt haben, ist dadurch mehr als zunichte gemacht worden.“ Die jüngste Erhöhung des Bürgergeldes habe zwar für einen Ausgleich der durch die Inflation gestiegenen Kosten gesorgt, aber nicht dazu geführt, dass viele Menschen aus der Armut gekommen seien.
„Es ist nicht abzusehen, wann es wieder besser werden kann“, glaubt Woltering. „Mehr junge Menschen haben nun schlechtere Startbedingungen, haben sich vielleicht gegen Ausbildung oder Studium entschieden. Ihre Lebenssituation wird sich verhärten. Perspektivisch wird es zu einer Verfestigung der Armut kommen. Wir haben die Gefahr, eine ganze Generation zu verlieren.“
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