Dortmund. Brüder Dramé beim Polizisten-Prozess in Dortmund. Den 16-Jährigen beschreiben sie als „nie aggressiv“. Was sie der Polizei vorwerfen.
Die Dramés in ihrem 100-Seelen-Dorf im Senegal sind eine große Familie. Lassana zählt die Namen seiner Geschwister an zwei Händen ab: neun Kinder, fünf davon Jungs. Einer ist vor langer Zeit gestorben, und auch den kleinen Bruder Mouhamed rechnet der 24-Jährige mit, als sei er noch da. Mouhamed aber ist tot, gestorben in Dortmund im August 2022 nach Schüssen aus einer Polizeiwaffe. Nun sind auch Lassana und Dramés Ältester Sidy in der Stadt, am Mittwoch stehen sie im Gerichtssaal zum ersten Mal den Polizisten gegenüber, die angeklagt sind, mit Tasern, Reizgas und einer Maschinenpistole auf ihren 16-jährigen Bruder geschossen zu haben.
Sie sagen, sie haben keine Angst gehabt vor diesem Moment; „wir gehören zu einem Volk“, sagt Lassana, „das keine Angst hat“. Auch Gefühle wie Wut oder Hass, nein, das kennen sie nicht aus ihrer Religion. Lanassa und Sidy sind vor allem traurig, das wiederholen sie oft, und man kann es sehen bei einem Gespräch am Vorabend ihres ersten Besuchs am Landgericht: Sidy (37) stützt das Gesicht in seine Hand, der lange Lassana senkt den Kopf immer tiefer, jemand legt ihm tröstend den Arm um die Schultern. Das gerahmte Foto ihres Bruders, aufgenommen von den Behörden bei seiner Ankunft in Deutschland, hat man für den Moment zur Seite geräumt. „Sie sind trauernde Angehörige“, mahnt ihre Rechtsanwältin Lisa Grüter und bittet, Fragen sorgsam abzuwägen. Sidy sagt: „Mouhamed hat uns so viel Liebe geschenkt.“
Mouhamed wollte nach Europa, „um unserer Mutter zu helfen“
Denn so sei der Bruder gewesen: voller Liebe, „ein braver Junge, der alles für seine Familie machen würde“. Ein Fußballfan, der wie Lassana den BVB liebte, noch bevor sie je in Dortmund waren. Wenn man über alles Gute in Mouhamed reden wolle, sagt Sidy leise, „dann sitzen wir den ganzen Tag hier“. Deshalb wohl sei der Jugendliche aufgebrochen nach Europa: „Er wollte das Dorf verlassen und etwas anderes erreichen“, sagt Sidy. Die Brüder, scheint es, haben das nicht hinterfragt. „Wir wollten im Senegal bleiben, hier etwas erreichen.“ Mouhamed aber habe „andere Ziele“ gehabt, „besonders, unserer Mutter zu helfen“. Der Mutter, die nie verstehen werde, warum man ihren Sohn getötet hat. „Es belastet sie sehr, weil Mouhamed eine so ruhige Person war. Er war nie aggressiv.“
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Und auch nicht krank, „keine Signale“. Sagen die Brüder, aber so viel weiß man inzwischen: In der Nacht vor dem 8. August, einem Montag im Sommer 2022, war Mouhamed in einem psychiatrischen Krankenhaus gewesen. Seinem großen Bruder, der noch am Sonntag mit ihm telefonierte, sagte Mouhamed davon nichts, Lassana schüttelt auf die Frage heftig den Kopf. „Wenn ich hier etwas geschafft habe, werde ich euch helfen“, habe der 16-Jährige gesagt. Und nichts davon, dass es ihm nicht gut gehe, er zurück nach Hause wolle. William Dountio aber, der als Vertrauter der Familie in Dortmund dabei ist, weiß: „Diese Menschen erzählen so etwas nicht. Sie versuchen immer, ihre Familie zu schützen.“ Die Jugendeinrichtung rief am Nachmittag die Polizei zur Hilfe, weil der Junge mit einem Messer hantierte, laut Anklage des Staatsanwalts richtete er es gegen sich selbst.
Tod von Mouhamed: Familie hielt es für eine falsche Nachricht
Mouhameds Gespräch mit Lassana war das letzte, was die Familie von ihrem Sohn hörte. Von seinem Tod erfuhr sie erst Tage später, zwei Jungen aus dem Dorf hätten vor dem Freitagsgebet herumgedruckst. Vater Dramé, erzählt Sohn Sidy, habe ihnen noch Mut gemacht: „Wenn ihr etwas Schlimmes habt, könnt ihr es mir ruhig sagen.“ Was die Jungen erfahren hatten, zunächst über soziale Netzwerke, hätte die Familie erst nicht glauben können: „Wir haben es für eine falsche Nachricht gehalten.“
Die Geschwister erzählen das auf Wolof, der Sprache der meisten Menschen im Senegal. Es war auch die Sprache Mouhameds, die Verständigung mit dem Jungen in Dortmund war schwierig. Im Büro der Nebenklage-Anwältin Grüter hilft ein Übersetzer, zu verstehen ist nur ab und zu ein einzelnes Wort: „Respekt“. Es ist eine Phase des Gesprächs, in der Sidy Dramé lauter wird, seine Stimme schärfer, der schmale Mann zu gestikulieren beginnt. Es geht um Gerechtigkeit. „Wieso haben die Polizisten nicht gewartet? Warum haben sie nicht erst auf seine Beine geschossen?“ Beide Männer stellen diese Fragen immer wieder. „Sie hätten ihn nach Hause schicken sollen. Wir hätten uns um ihn gekümmert.“
Ältester der Familie Dramé: „Mein Bruder ist unschuldig“
Tatsächlich, so steht es in der Anklage gegen die fünf Polizistinnen und Polizisten, sprachen Beamte Mouhamed nur kurz an, auf Deutsch und Spanisch. Dass er das Messer fallen lassen solle, ist auf einem Tonmitschnitt offenbar nicht zu hören. Schnell erging der Befehl, Pfefferspray und Stromstöße einzusetzen, keine Sekunde später fielen sechs Schüsse. Fünf trafen Mouhamed, alle in den Oberkörper. „Mein Bruder“, sagt Sidy aufgebracht, „ist unschuldig. Aber er wurde getötet wie ein Tier.“
Für die jungen Senegalesen ist gerade das unvorstellbar. In ihrem Dorf, erklärt Freund William, kümmere man sich „geduldig und sorgfältig“ um Menschen. In Dortmund aber haben die Brüder Dramé und bei einem ersten Besuch auch ihr Vater gesehen, wie gut sich die Deutschen um Tiere kümmerten, während auf der Straße Obdachlose lebten. Jedes Tier, sagt Sidy, werde hier geschützt. „Warum nicht ein Mensch? Wieso kümmern sie sich nicht um Menschenleben?“
Vom Gericht wünscht sich die Familie Antworten. Und Gerechtigkeit. Dass die Brüder Dramé als Nebenkläger am Prozess überhaupt persönlich teilnehmen können, haben Spenden von Unterstützern in Dortmund möglich gemacht. Anwältin Lisa Grüter hält es für „wichtig, dass sie den Menschen in die Augen sehen können, die für die Tötung Mouhameds verantwortlich sind“. Ob Lassana und Sidy an weiteren Verhandlungstagen teilnehmen, ist offen. Der erste Tag habe sie „mächtig mitgenommen“, beobachtete Grüter. Auch Verteidiger Christoph Krekeler, der den angeklagten Schützen vertritt, sah am Mittwoch „auf beiden Seiten Traurigkeit“.
Der nächste Termin ist erst Ende Februar, das Visum der Dramés gilt nur für 90 Tage – „vielleicht“, sagen Freunde, „haben sie auch gar nicht die Kraft, das noch einmal zu ertragen“.
>>KRITIK DER NEBENKLÄGER: GERICHT ARBEITET „UNTERIRDISCH“
Lassana und Sidy Dramé, die älteren Brüder des getöteten Mouhamed, werden als Nebenkläger im Prozess von der Dortmunder Rechtsanwältin Lisa Grüter und dem Bochumer Kriminologen und Strafverteidiger Prof. Thomas Feltes vertreten. Beide übten am Rande des Gesprächs mit den Senegalesen Kritik an der Polizei, der Politik und auch dem Gericht.
Sie beobachte bereits seit Jahren „ein immer robusteres Auftreten der Polizei“, sagte Grüter, die sich nach dem Tod von Mouhamed Dramé zunächst privat für das Gedenken engagierte und später die Vertretung der Nebenklage übernahm. Weder die Stadt Dortmund noch die Polizei hätten sich zudem „Mühe gegeben“, Reisen der Hinterbliebenen nach Deutschland zu unterstützen.
Auch das Land NRW habe dabei nicht mitgewirkt, kritisiert Prof. Feltes und zitiert aus einem Schreiben des Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Auf die Bitte an die Landesregierung, sich ähnlich wie bei den Angehörigen der Loveparade-Opfer an Reisekosten für die Dramés zu beteiligen, habe Wüst im Fall Duisburg von einer „außergewöhnlichen Ausnahme“ gesprochen und im „sehr tragischen Vorfall“ aus Dortmund abgelehnt.
Der 39. Großen Strafkammer am Dortmunder Landgericht warf Feltes vor, sich „nicht angemessen“ auf das Verfahren vorbereitet zu haben. Dass am dritten Prozesstag Mitte Januar eine von den Nebenklägern nachgefragte Akte zunächst nicht aufzufinden war, nennt der Nebenklage-Vertreter „unterirdisch“ und „dramatisch“. Das Verfahren habe große Bedeutung für den Umgang mit Polizeigewalt in Deutschland. Es bestehe nach den sehr guten Ermittlungen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt aber „die Gefahr, dass das Gericht diese Arbeit nicht angemessen würdigt“.