Essen. Extreme Viruslast in NRW-Klärwerken deutet auf viele Corona-Infektionen hin. Künftig soll auch das Abwasser von Flugzeugen getestet werden
Sämtliche Balken sind tiefrot. Und rot bedeutet: Die Viruslast ist „stark steigend“. Im Abwasser der NRW-Klärwerke finden sich derzeit so viele Corona-Viren wie noch nie seit Beginn der Messungen im Juni 2022. Dies zeigen die jüngsten Daten des Abwassermonitorings NRW des Landeszentrums Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG) mit dem Stand für den 11. Dezember. Das LZG spricht von einem „neuen Höchststand“. Das Einzugsgebiet der beprobten 14 großen Kläranlagen umfasst rund 5,2 Millionen Einwohner, also knapp 30 Prozent der Bevölkerung in NRW. Das bedeutet: Derzeit sind offenbar so viele Menschen infiziert wie noch nie.
Seit Herbst und der frühen Winterzeit zeigt die Kurve der Corona-Viruslast im Abwasser der NRW-Klärwerke kontinuierlich nach oben. Das lasse auf einen Anstieg der Infektionsdynamik schließen, so eine Sprecherin des LZG. Schon jetzt sind viele Menschen erkrankt, doch die Zahlen lassen den Schluss zu, dass der Höhepunkt noch nicht erreicht ist. Denn der Winter kommt erst noch.
Viruslast im Abwasser „stark steigend“
„Ja, die Zahlen gehen hoch“, bestätigt Prof. Folker Meyer, Medizininformatiker am Uni-Klinikum Essen. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“ Das bedeute nach dem Ende der Corona-Schutzmaßnahmen, selbst Verantwortung für sich und seine Mitmenschen zu übernehmen. „Ich trage immer eine Maske, wenn ich unter vielen Menschen bin oder zum Beispiel mit Bus und Bahn fahre.“
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Die Daten des Abwassermonitorings in den Kläranlagen lassen jedoch keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Inzidenz zu. Die Zahlen zeigen keine absoluten Corona-Fälle, sondern nur die prozentuale Veränderung der Viruslast im Vergleich zu den Proben zwei Wochen zuvor. Ab einer Zunahme von 15 Prozent sprechen die LZG-Experten von „stark steigend“. Das ist zum Zeitpunkt der letzten Messungen an zehn der 14 Kläranlagen der Fall. Doch die Ergebnisse der Abwasserproben zeigen nicht das gesamte Bild der Corona-Lage, „aber sie ergänzen den Mix aus etablierten Indikatoren wie Krankenhausbelegung und Sieben-Tage-Inzidenz, mit denen NRW das Infektionsgeschehen fortlaufen beobachtet“, teilt das LZG mit.
Das Pandemieradar des Bundesgesundheitsministeriums weist aktuell bundesweit eine Sieben-Tage-Inzidenz von 29 Covid-19-Fällen pro 100.000 Einwohnern und Einwohnerinnen aus. In NRW stieg sie zuletzt von 23 auf 25. Die Inzidenz basiert auf den Meldezahlen des Robert-Koch-Instituts.
Experten gehen von hoher Dunkelziffer aus
Doch diese Werte sagen im Grunde wenig aus, da nicht mehr kontinuierlich getestet werde und Corona-Infektionen somit oft nicht mehr gemeldet werden, sagt Carsten Watzl, Immunologe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der TU Dortmund. Die Experten gehen daher von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein Grund für Alarmismus seien die steigenden Zahlen nach Ansicht von Virologen indes derzeit nicht, denn die Infektionen verliefen meist weniger dramatisch als zur Hochphase der Pandemie. Gleichwohl müsse man wachsam zu bleiben.
In der ersten Dezemberwoche wurden in NRW laut LZG insgesamt 4374 Corona-Fälle gemeldet, das sind 315 mehr als in der Vorwoche. „Die Infektionszahlen, insbesondere mit Rhinoviren aber auch mit Covid19 steigen seit einigen Wochen allgemein an“, mahnt das NRW-Gesundheitsministerium. Die Ärzteschaft empfehle daher vor allem den Risikogruppen und älteren Menschen, sich gegen das Virus impfen zu lassen und die bekannten AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Atemschutzmaske - zu beachten. „Wir gehen aber nicht davon aus, dass wir staatliche Maßnahmen wie eine Maskenpflicht benötigen werden“, heißt es weiter.
Suche nach neuen Virus-Varianten
Das Abwassermonitoring in NRW gehört zu einem bundesweiten Forschungsvorhaben, an dem auch das Team um Prof. Folker Meyer vom „Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin“ am Essener Uni-Klinikum beteiligt ist. Bei den Analysen des Abwassers aus bundesweit rund 130 großen Anlagen interessiere die Forscher nicht nur die aktuelle Viruslast, sondern zudem, ob sich neue Varianten oder Erreger finden. „Wir wollen wissen: Kommt da etwas Neues auf uns zu, das womöglich gefährlich ist?“
Das System soll für ein genaueres Bild daher nicht nur auf weitere Kläranlagen ausgeweitet werden, sondern zudem Abwassertests von Flugzeugen umfassen. Bei einer großen Fachtagung Mitte November in Frankfurt habe sich die Europäische Union darauf verständigt, ein europäisches Alarmsystem als Teil eines globalen Netzwerks zu etablieren. „Überall auf der Welt sollen Flugzeugtanks beprobt werden“, sagt Folker Meyer begeistert, der bei der Tagung dabei war. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe sich während der Veranstaltung in einem Grußwort für das Vorhaben starkgemacht.
Europa plant Abwassertests von Flugzeugen
Auf Nachfrage bestätigt das Bundesgesundheitsministerium die Pläne: „Die EU plant ein European Super-Sites Sentinel System für Abwasser“, erklärt eine Sprecherin. „Hierbei soll auf globaler Ebene eine systematische und regelmäßige Überwachung von Verkehrsknotenpunkten wie Flughäfen, Flugzeugen und anderen Transportsystemen stattfinden.“ Dadurch könne man die Ausbreitungswege von Krankheitserregern nachverfolgen, frühzeitig bedrohliche Entwicklungen entdecken und Schutzmaßnahmen einleiten.
Am Flughafen Frankfurt, einem zentralen Drehkreuz im internationalen Flugverkehr, testet ein Team der TU Darmstadt bereits seit fast drei Jahren in einem Pilotvorhaben regelmäßig das Flugzeugabwasser auf Coronaviren und seine Varianten. Auch der Airport Düsseldorf könne Teil dieses neuen globalen Überwachungs-Netzwerks werden, heißt es.
Folker Meyer sieht in dem Vorhaben einen „riesigen Fortschritt“. Eine weltweite Ausweitung von Probenentnahmen aus Flugzeugabwasser sei „ziemlich fantastisch“. Aus dem Drama der Corona-Pandemie seit 2020 würden nun die richtigen Lehren gezogen.