An Rhein und Ruhr. Jecken feiern die Sessionseröffnung – trotz Kriege in Nahost und der Ukraine. Experten erklären, woher Karnevalisten die Kraft zum Lachen nehmen.

Bunte Kostüme, Glitzer, Konfetti, Helau oder Alaaf auf der einen Seite, Trauer, Leid und Wut auf der anderen: Am Samstag treffen verkehrte Welten aufeinander. Karnevalisten eröffnen die Session mit vielen Feiern im Rheinland und am Niederrhein, während Menschen wegen des Kriegs in Nahost auf die Straße gehen.

Woher ziehen Karnevalisten die Kraft zum Lachen, Feiern und Fröhlichsein in Zeiten der Kriege und Krisen? Es gibt mehrere Erklärungsansätze, die auch denjenigen nutzen können, die mit Karneval nichts am Hut haben.

Karnevals-Bund: „Fest bringt Menschen zusammen“

„Ein angeborenes Humor-Gen haben wir nicht“, scherzt Klaus-Ludwig Fess, Präsident des Bunds Deutscher Karneval (BDK). So sei es auch möglich, dass einzelnen Jecken nicht zum Feiern zumute ist. Das sei aber bei den wenigsten so. Von den 5.300 Karnevalsgesellschaften des Verbands kenne er keine, die wegen der Krisen auf Partys verzichtet.

Er erklärt sich die Freude am Fest anders: „Gerade in Zeiten der Not ist Karneval wichtig, denn das Fest bringt Menschen zusammen – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Glauben oder ihren politischen Überzeugungen.“ Es setze ein Hoffnungszeichen. „In dieser turbulenten Welt ist Karneval eine Oase der Freude und des Miteinanders“, meint er.

In Düsseldorf erwacht am Samstag um 11.11 Uhr der Hoppeditz. Damit gilt die Session als eröffnet.
In Düsseldorf erwacht am Samstag um 11.11 Uhr der Hoppeditz. Damit gilt die Session als eröffnet. © dpa | Fabian Strauch

Ignorieren oder gar verdrängen wollen die Jecken die aktuellen Probleme nicht, sagt der BDK-Präsident: „Wir feiern ja nicht blind.“ So habe die karnevalistische Glückseligkeit auch ihre Grenzen, „und zwar dort, wo der gute Geschmack endet und wir Menschen durch unsere Aktivitäten schaden“.

Diese Grenze sieht er aktuell aber nicht überschritten. Im Gegenteil: „Gerade jetzt brauchen die Jecken ein Fest, bei dem sie Druck aus dem Kessel lassen können.“

Brauchtumsforscher: Karneval als Auszeit hat Tradition

Die Karnevalstage als Auszeit zu nutzen, hat sogar einen historischen Ursprung, erklärt Brauchtumsforscher Manfred Becker-Huberti. Schon vor dem Mittelalter hätten Jecken an Karneval die Möglichkeit gehabt, in eine Rolle zu schlüpfen, närrisch zu sein und der Obrigkeit ihre Meinung zu sagen.

„Wenn die Seele des Volkes kochte, hatte sie beim Karneval die Gelegenheit, Dampf abzulassen, ohne Bestrafung fürchten zu müssen“, sagt der Theologe aus Grevenbroich. So sei auch die uralte Narrenzahl Elf im Mittelalter entstanden: „Sie übertritt die Dezimalordnung, die Zahl der Gebote und ist ein Symbol der Unordnung.“ Daher sei Karneval schon immer politisch und unflätig gewesen.

Feiern an Karneval „ist gut für Leib und Seele“

Dass es auch Situationen gibt, in denen Karnevalisten die Lust am Feiern verlieren, zeigen einige wenige Beispiele. 1991 hat das Festkomitee des Kölner Karnevals den Rosenmontagszug abgesagt, als sich der Zweite Golfkrieg verschärfte.

Auch im vergangenen Jahr zogen Friedensdemonstranten statt Jecken durch Köln, weil wenige Tage vor Rosenmontag Russlands Krieg gegen die Ukraine begann.

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Brauchtumsforscher Becker-Huberti schließt nicht aus, dass es erneut zu diesem Punkt kommen könnte, wenn sich die Situation in Nahost weiter verschärfen würde. Doch er rechnet nicht damit und hält es stattdessen für richtig, an Karneval lustig zu sein und den Kopf freizukriegen: „Das ist gut für Leib und Seele.“

Psychologin: „Zeit mit Krisen und Kriegen hinterlässt ihre Spuren“

Dass Karnevalisten zum 11.11. in den Feiermodus wechseln, hat laut der Düsseldorfer Psychologin Gabriele Birnstein auch etwas mit Gewohnheit zutun: „Das ist für diese Menschen wie ein Ritual.“ Sie hätten es während der Pandemie vermisst, Karneval nicht wie üblich feiern zu können.

Auch sie ist der Ansicht, dass es vielen helfen würde, Karneval zu feiern. Bei ihr würden sich immer mehr Menschen melden, die wegen der schlechten Nachrichten verängstigt sind: „Ich merke bei vielen Anrufen, dass unsere aktuelle Zeit mit ihren schrecklichen Krisen und Kriegen ihre Spuren hinterlässt.“

Die Düsseldorfer Psychologin Gabriele Birnstein empfiehlt, Karneval als Ablenkung zu schlechten Nachrichten zu nutzen: „Lachen ist gesund.“
Die Düsseldorfer Psychologin Gabriele Birnstein empfiehlt, Karneval als Ablenkung zu schlechten Nachrichten zu nutzen: „Lachen ist gesund.“ © René Verkaart

Nicht nur direkte Betroffenheit löse Angst aus. Allein die Flut an schlechten Nachrichten belaste viele. Schuld daran sei auch der evolutionäre Mechanismus des Gehirns, negative Informationen schneller zu verarbeiten als positive. „In der Steinzeit war das ein Überlebensvorteil. Wenn man nicht schnell vor dem Säbelzahntiger geflüchtet ist, war man tot“, erklärt Birnstein.

„Lachen ist gesund“: So kann Karneval helfen

Der Nachteil: Dadurch, dass Menschen viele schlechte Nachrichten verfolgen, entstünde das Gefühl, die Welt sei kein sicherer Ort mehr. „Wenn man sich diesem Gefühl zu oft aussetzt, kann man in eine Abwärtsspirale geraten, die sogar Depressionen auslösen kann“, erklärt Birnstein.

Doch sie gibt Hoffnung: „Wir können unser Denken steuern.“ Eine Ablenkung wie eine Karnevalsfeier könne negative Gedanken zur Seite schieben. Zudem helfe die Gemeinschaft: „Indem sich Menschen sehen und Spaß zusammen haben, tanken sie Kraft.“

Die Psychologin hält nichts davon, Karnevalisten zu verurteilen, weil sie trotz Krisen feiern: „Es nutzt den Menschen in Israel und der Ukraine nichts, wenn wir aufhören zu lachen.“ Sie plädiert dafür, das Gute im Schlechten zu suchen und den Spaß nicht zu verlieren, denn: „Lachen ist gesund.“

>> FREUDE IN KRISENZEITEN: PSYCHOLOGIN GIBT TIPPS

  • Um sich von schlechten Nachrichten nicht erdrückt zu fühlen, hat Psychologin Gabriele Birnstein mehrere Strategien.
  • Statt oft, aber nur kurz Nachrichten zu verfolgen, rät sie dazu, sich ein- oder zweimal am Tag zu informieren, „dafür dann etwas länger und durch verschiedene Quellen“. So bliebe man informiert, „ohne ständig in die Traurigkeit zurückzufallen“.
  • Auch Ablenkung helfe sehr gut, zum Beispiel durch Sport, Meditation oder Hobbys. Zudem hat Birnstein einen Trick: „Einfach mal lächeln, auch wenn es zurzeit nicht viel zu lachen gibt.“ Das Gehirn denke, es gehe der Person gut.