Ruhrgebiet. Die Foto-Ausstellung „Mythos und Moderne“ will den Ruhrgebiets-Fußball als Spiegel der Region abbilden. „Eine besondere Beziehung.“

An Libuda kommt niemand vorbei, selbst zwei Museumsdirektoren nicht. Das Bild des Spielers vor seinem Lottoladen macht aus den beiden schlagartig Fußballfans. Ernst Kuzorra hat den Laden auch geführt, da sind sie sich einig. Aber Rüdiger Abramczik? Heinz van Haaren? Es geht ein bisschen hin und her und dann ungefähr in die Richtung, wer der beste Fußballer aus dem Ruhrgebiet war. Okay, das könnte jetzt dauern.

Aber dann besinnen sie sich, sie sind ja dienstlich hier: Theo Grütter, der Direktor des Ruhrmuseums in Essen, und Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund. Sie wollen über etwas anderes erzählen, über eine gemeinsame Fotoausstellung. „Mythos und Moderne. Fußball im Ruhrgebiet“ heißt sie und ist, man fasst es nicht, die erste umfassende Fotoausstellung zum gesamten Ruhrgebietsfußball.

450 selten oder nie gezeigte Fotos aus rund 100 Jahren

Jungen spielen Fußball auf einem Bolzplatz in Bochum-Werne, im Hintergrund sind die Halden der Zeche Robert Müser zu sehen. Datum: 05. Mai 1960
Jungen spielen Fußball auf einem Bolzplatz in Bochum-Werne, im Hintergrund sind die Halden der Zeche Robert Müser zu sehen. Datum: 05. Mai 1960 © Stadt Bochum, Presseamt | Fotografen der Stadt Bochum

450 Fotos aus nahezu 100 Jahren, selten oder noch nie gezeigt, gegliedert in, natürlich, elf Themen. Zu ihnen tritt nur eine kleine Gruppe von Ausstellungsstücken. Die Pöhlerkappe von Jürgen Klopp. Das Endspieltrikot von Helmut Rahn 1954 oder die Bergmannsfigur „Kurze Fuffzehn“ von Rot-weiß Essen. Ansonsten können Besucher sich nur von Fotos ein Bild machen.

„Das Ruhrgebiet und der Fußball haben historisch und bis in die Gegenwart eine besondere Beziehung“, sagt Grütter. Aus Zechen heraus wurden 80 Prozent der Vereine gegründet oder unterstützt, wie sonst nur in England. Zechen stellen Plätze und Platzwarte, Fußballer sind Bergleute und Stahlarbeiter. Es entsteht: das Land der 1000 Derbys. Jedem Anstoß wohnt ein Zauber inne.

Gründung der Bundesliga fällt ungefähr mit dem Niedergang zusammen

Mit dem Bergbau ist der Ruhrgebietsfußball groß geworden - und wieder kleiner. Nach vier Meister-Titeln in den 1950er-Jahren fällt „die Gründung der Bundesliga 1963 ungefähr mit dem Niedergang zusammen“, so Neukirchner. Die legendäre Oberliga West verschwindet, in der ein Dutzend Zechen- und Arbeiterclubs gespielt hatten; die große Zeit von Vereinen wie dem SV Sodingen oder den Sportfreunden Katernberg ist vorbei.

Ein VfL Hörde (Kreisliga) führt bis heute als Höhepunkt seiner Vereinschronik, dass er 1931 der erste Dortmunder Verein war, der Schalke in einem Meisterschaftsspiel in der Glückauf-Kampfbahn besiegte. Lange her. Bedeutende Überlebende im Ruhrgebiet? Nur eine Handvoll. Aber für Lebensgefühl und Identität spielen sie noch immer eine große Rolle. Nirgendwo sonst gebe es noch so viele Traditionsklubs, die sogar in unteren Ligen viele Zuschauer haben, sagt Neukirchner. Das Stadion des VfL Hörde ist in Dortmund das: drittgrößte.

„Wir haben einen sehr großen Schatz an Fußballmotiven“

Theo Grütter (links), Direktor des Ruhr-Museums, und Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums, mit der Figur „Kurze fuffzehn“ von Rot-Weiss Essen.
Theo Grütter (links), Direktor des Ruhr-Museums, und Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums, mit der Figur „Kurze fuffzehn“ von Rot-Weiss Essen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Grütter und Neukirchner hatten über die Jahre immer mal über ein gemeinsames Projekt nachgedacht: die regionale Kompetenz und die Fußball-Kompetenz zusammenzuspannen. Ursprünglich wollten sie die schwarz-weiße Fotografie des Mythos in Essen zeigen und die farbige Moderne in Dortmund. Doch „das hätte die Ausstellung zerrissen“, sagt Neukirchner: „Die Bilder hier auf Zollverein zu zeigen, gibt ihnen noch mal eine besondere Tiefe.“ Zu sehen sein werden sie auf der 12-Meter-Ebene im früheren Kohlebunker - passt eigentlich.

„Mitarbeitern war aufgefallen, dass wir einen sehr großen Schatz an Fußballmotiven haben“, so Grütter. 60.000 sollen es sein zur Fußballkultur im Ruhrgebiet. Und das ist überwiegend nicht die Sport- und Starfotografie der jüngeren Jahrzehnte, sondern Reportage- und Sozialfotografie tief aus dem 20. Jahrhundert. Wo Fußball nur zufällig auftaucht, aber ständig. Typisches Beispiel: Fußballspieler oder kickende Kinder vor überwältigenden Industriekulissen.

Die erste offizielle Veranstaltung im Vorfeld der Fußball-EM 2024

Freilich steckt im Wort Mythos immer auch ein großer Anteil von: Es war gar nicht so. „In der Erinnerung wird vieles glorifiziert, das bedienen wir auch“, sagt Heinrich Theodor Grütter, „aber wir zeigen auch die ganze Profanität auf Asche“. Neukirchner: „Fußball im Ruhrgebiet ist auch immer eine Reise in die eigene Erinnerung, in das eigene Ich.“

„Mythos und Moderne“ ist die erste offizielle Veranstaltung im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2024. Die wird in Deutschland ausgespielt wird, unter anderem in Gelsenkirchen und Dortmund. Die Ausstellung in Essen sei „Einstimmung und nicht Begleitung“, und sie ist am 5. Februar 2024 auch schon wieder vorbei, lange vor der EM. Besuchern steht sie offen von Montag an, dem 8. Mai 2023, um 10 Uhr. Da haben sich Neukirchner und Grütter auch längst geeinigt, wer der Beste überhaupt war. An Libuda kommt niemand vorbei.