Bochum. Werner Stähler hat seit Juli 2021 Prothesen, wo andere Beine haben. Er sagt: „Mir fehlt nichts. Aber es gibt zu wenig Behindertenparkplätze.“
Kürzlich ist er wieder umgekippt mit seinem Rollstuhl. Beim „Spökes-Machen“ mit dem Sohn, erzählt Werner Stähler. Der lachte, als der Vater auf dem Rücken landete. Und Stählers Frau seufzte nur: „Da liegt sie wieder, meine Schildkröte...“ Nein, mit allzu viel Mitleid muss der Mann aus Kreuztal, der nach einem Arbeitsunfall im Juli 2021 beide Beine verlor, seitens seiner Familie nicht rechnen. Er würde es auch nicht wollen. „Mir fehlt doch nichts!“, findet er.
20 Monate, nachdem ein Lkw den Baggerfahrer auf einem Schrottplatz in Siegen überrollte, ist Werner Stähler wieder Patient im Bochumer „Bergmannsheil“. Da, wo er damals ein halbes Jahr verbrachte, wo er 16-mal operiert wurde, wo sie ihm die Gliedmaßen amputierten: das linke Bein direkt unterhalb des Knies, das rechte weit oberhalb davon. Seit kurzem trägt er „Definitivprothesen“ – endgültig angepasste, gut 50.000 Euro teuer. Fürs „Feintuning“, zur „Auffrischung der Gangschule“, kam er nun erneut in das Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinikum.
Haus und Auto sind nun behindertengerecht
Gehadert mit seinem Schicksal hat Werner Stähler nie. Er hat es von Beginn an angenommen. Noch auf der Intensivstation erklärte er seiner Frau beim Begutachten der Stümpfe: „Damit müssen wir klar kommen!“ Und? Kommt er klar oder ist der Alltag mit einem solchen Handicap doch schwerer, als er es sich vorgestellt hat? „Es gibt viel zu wenig Behindertenparkplätze“, meint der Vater zweier studierender Kinder. „Aber sonst: komme ich bestens zurecht!“
Die Berufsgenossenschaft (BG) baute dafür sein Zuhause behindertengerecht um. Die Dusche ist jetzt ebenerdig, Lifte helfen, die Treppen im und vor dem Haus zu überwinden. Die Schmerzmittel setzte Stähler kurz nach seiner Entlassung ab, nur die gegen den Phantomschmerz muss er weiternehmen. Nach drei Monaten machte er den Führerschein neu – und kaufte anschließend dem Fahrlehrer das Auto ab, Gas und Bremse des Automatikwagens bedient er nun mit den Händen mittels Drehknopf.
Der erste Urlaub ist geplant
Zwei Stunden täglich geht Stähler zur Reha in seinem Heimatort, an fünf Tagen in der Woche; fürs Brötchenholen am Wochenende steigt er nicht einmal mehr in den Rollstuhl; 700 Meter am Stück schafft er schon an Gehhilfen; einmal im Monat trifft er sich mit den Kumpels wie früher zum „Männerabend“; das Holz für den Kamin hat er ganz allein hinter dem Haus aufgeschichtet; und der erste Urlaub ist in Planung. Ans Nordkap will er mit der Familie, auf einem Schiff. Stähler hätte auch gerne noch ein paar Jahre lang weiter als Baggerfahrer gearbeitet, er hatte sogar seine Ärzte und die BG, die erst skeptisch waren, für diese Idee gewonnen. Letztendlich aber sagte der Arbeitgeber „Nein“. Hier sollte erwähnt werden: Werner Stähler ist 66.
Seit Januar ist er nun „notgedrungen“ Rentner. Ein rastloser Rentner. Von acht bis 17 Uhr findet man den Mann derzeit im Reha-Bereich des Bergmannsheils: draußen beim Bewältigen unterschiedlich hoher Stufen, schräger Ebenen oder schwieriger Untergründe; drinnen, auf dem „Posturomed“, einer Art Wackelbrett zur Schulung des Gleichgewichts, oder an der Kletterwand, die vor ihm noch nie einen doppelt Amputierten reizte, wie Lisa Neumann (Bereichsleiterin Reha) berichtet. Stähler strengt das Training an, das sieht man, das gibt er auch zu. „Das Gehen ist verdammt schwer“, sagt er. „Vor allem auf Schotter, und Sand hab ich noch gar nicht probiert...“. Neumann, Physiotherapeutin und Sportwissenschaftlerin, verdreht die Augen: Schotter, Sand – schwieriger geht’s kaum. Doppelt Amputierte mit solchen „Problemen“ sind selten.
Ein „genialer Patient“ mit „unbändigem Willen“
Sie erinnert ihn an seinen ersten „Ausflug“ im Herbst 2021 in ihrer Begleitung, an seinen ersten Versuch, die Rolltreppe am Abgang zur U-Bahn-Haltestelle „Schauspielhaus“ im Rollstuhl zu bezwingen. Da hatte er noch nicht einmal Prothesen. „War spannend“ stimmt Stähler grinsend zu. Heute stellen Rolltreppen für ihn keine Hürde mehr da.
Sven Jung, Chefarzt der BG Rehabilitation im Bergmannsheil, freut sich über Stählers Fortschritte und über diesen „genialen Patienten“ sowieso. Den „hohen Mobilitätsgrad“ des doppelt Amputierten erklärt er vor allem mit seinem „unbändigen Willen“, seiner bewundernswerten Motivation, seinem stabilen Freundes- und Familienumfeld. Und er verzeiht ihm, dass er ein paar Tage zuvor die 70 Teilnehmenden einer Fortbildungsveranstaltung im Haus von der Fortbildung abhielt – weil plötzlich alle 70 am Fenster standen und Werner Stähler beim Terrain-Training im Reha-Garten bestaunten. Was die Schwere der Verletzung angehe, so Jung, „passt Stähler ganz gut in unser Patientenkollektiv. Und er ist auch nicht der einzige Patient, der sein Schicksal akzeptiert. Doch seine Herangehensweise ist außerordentlich.“
Manchmal bringt es auch Bowling im Bewegungsbad
Jeder ist anders, ergänzt Lisa Neumann. Mancher mit einer vielleicht weniger furchtbaren Verletzung tue sich auf dem Weg zurück ins Leben durchaus schwerer als Werner Stähler. Aber dann müssten seine Ärzte und Therapeuten eben „kreativ“ werden, ein „Anpackende“ finden, „und sei es Bowling im Bewegungsbad“ – eine Idee, die für eine Ex-Patientin einst den Durchbruch brachte.
Dass es „technische Grenzen“ des Erreichbaren gebe, verkennt Stähler nicht. Er sei in der Realität „angekommen“. Verzweifeln werde er darüber nicht, das sei ihm „nicht angeboren“. Nicht einmal einen einzigen „dunklen Moment“ räumt er ein. Familie und Freunde seien ihm ja geblieben und die hätten inzwischen begriffen, dass er noch immer der Alte sei. Gutgelaunt posiert er darum für den Fotografen. Als der signalisiert: danke, das war’s, fragt Stähler: „Und was machen wir nun, Fußball spielen?“