Essen/Odessa. Der kleine Essener Verein „Odessa wir helfen“ hat eine Patenschaft übernommen – für 200 ukrainische Kinder. Für ein Kinderheim nahe der Front.
Durch den Wald und über Wiesen ging die Fahrt, mit Volldampf fuhr der Jeep der ukrainischen Armee vorneweg über Schlaglöcher „so tief“. Daniel Reinhard zeigt eine Ellenlänge. Das Hinterland von Cherson, gerade befreit, aber bei weitem nicht sicher. Als der Ford Ranger in ein Dörfchen rollte, die Essener Helfer in ihrem Transporter hinterher, auf einen Hof, umringt von mehreren Gebäuden, „wirkte alles verlassen“, erinnert sich Reinhard. Erst nach einer Weile zeigte sich ein Betreuer, dann mehrere. Und erst als sie sicher waren, dass es sich um Freunde handelte, kamen die Kinder heraus.
Für sie hat der Essener Verein „Odessa wir helfen“ eine Patenschaft übernommen. Nicht nur für ein paar, für alle 200 Kinder. Für das gesamte Kinderheim, dessen Ort und Namen wir nicht nennen können. Viele Kinder sind Kriegswaisen oder Elternteile sind in Gefangenschaft. „Und es gibt die Angst“, sagt Reinhard, „dass die Russen die Kinder verschleppen könnten.“
Tatsächlich haben Forscher der US-Uni Yale aktuell eine Studie veröffentlicht, laut der mindestens 6000 ukrainische Kinder nach Russland und auf die besetzte Krim verschleppt wurden. 43 Lager konnten per Satellit identifiziert werden. Russland erklärte dazu: „Russland hat Kinder aufgenommen, die gezwungen waren, mit ihren Familien vor dem Beschuss zu fliehen.“ Die Forscher allerdings schreiben, in den Lagern gehe es um eine „pro-russische patriotische“ und militärartige Erziehung. Die Ukraine hatte kürzlich erklärt, mehr als 14.700 Kinder seien nach Russland deportiert worden. Einige seien Opfer von sexuellem Missbrauch geworden.
„Odessa wir helfen“ ist ein kleiner Verein, verwurzelt im Essener Stadtteil Haarzopf mit 35 Mitgliedern von Hattingen bis Radevormwald. Zehn von ihnen fahren regelmäßig in die Ukraine. Diese Tour Anfang Februar war ihre achte. Sie hatten ihre vier Transporter vollgepackt mit 30 Generatoren, mit Gaskochern und Medikamenten, Schlafsäcken, Babynahrung, Zahnbürsten – und Kinderspielzeug. Zwei Sprinter selbst waren eine Spende. Auf fast jeder Fahrt lassen sie Fahrzeuge dort, berichtet Reinhard: „Mindestens vier sind mittlerweile als Krankentransporter im Einsatz.“
„Odessa wir helfen“ agiert auch nicht allein. Mit den Partnervereinen Dufe (Deutsch-Ukrainische Freundschaft Essen) und Opora haben sie vor Weihnachten einen Transport für die Stadt Essen nach Riwne übernommen. Der Essener Exporteur Thomas Schiemann, der mit seinen Verbindungen in die ukrainische Lebensmittelindustrie regelmäßig große Mengen an Hilfsgütern bewegt, hat allen Essener Vereinen Hilfe bei der Logistik angeboten. Daniel Reinhard, Hartmut Rüggeberg, Nathanael Preuss und ihre Freunde wollen das gerne annehmen, aber dennoch weiter selber fahren – trotz. „Dieses Vertrauen kannst du nur aufbauen, wenn du selbst vor Ort bist. Ich freue mich auch, die Leute zu treffen, es sind Freunde mittlerweile.“ Die Reinhards hatten Flüchtlinge aus Odessa aufgenommen. Diese hatten den Kontakt zu Tatjana Prawda vom Familienhilfswerk Odessa hergestellt, die ihnen nun alle Türen öffnet.
Eine alte Reibe für 60 Kilo Kartoffeln
Auch das Kinderheim war ihre Empfehlung: „Wir wollten zunächst nur unsere Hilfsgüter hinbringen. Ein Junge hat beim Entladen zwei Ikea-Taschen geschleppt wie ein Weltmeister“, erinnert sich Reinhard. „Dann haben wir den Luftschutzkeller gesehen mit den ungepolsterten Pritschen, wo die Kinder den Großteil des Tages verbringen. Für 60 Kilo Kartoffeln haben sie nur noch eine alte Reibe.“ Und noch bevor die Kinder die Helfer mit selbstgebastelten Orden rührten, war die Entscheidung gefallen: „Wir konnten gar nicht anders, als eine Patenschaft zu übernehmen.“ Perspektivisch will der Verein auch traumatisierte Kinder in Deutschland behandeln lassen.
Bei der Abfahrt schrillten wieder die Sirenen. Fliegeralarm! Den haben sie auf jeder Tour. Als die Helfer in Odessa ankamen, hatte die Sperrstunde längst begonnen. Aber man kennt sie mittlerweile dort. Ein Anruf und die Polizei eskortierte sie zu den Freunden.