Ruhrgebiet. Nie halfen sie einer so großen Gruppe an einem Tag: Psychotherapeuten der Ruhr-Uni wollen 600 Menschen von Flugangst befreien. Durch einen Flug.
Am 25. Februar starten in Düsseldorf vier Passagierflugzeuge, deren Ziel ist kein Ort, kein Strand, kein Land: Das Ziel ist größer. Denn an Bord sitzen dann jeweils 150 Menschen mit ausgeprägter Flugangst, die bereits 1000 Tode sterben, ohne einmal abzustürzen. Bei diesen Freiflügen sind auch noch einige Plätze frei, aber das soll jetzt bitte keine Drohung sein: Denn mit an Bord sind 30 Therapeuten und Therapeutinnen, die sie heilen sollen von der Flugangst.
Der verdammten Flugangst. Tobias Knaup hat sich in sehr großen Abständen dreimal zu fliegen getraut, um zu schauen: Ob die Angst wohl weg ist? Nein. „Letztes Jahr Mallorca war nicht ganz so schön.“ Knaup hat am Strand gelegen und nur Augen für die Flugzeuge da oben gehabt. „Man kann den Urlaub nicht genießen, weil man immer wieder an den Rückflug denkt“, sagt er: „Man weiß, man ist auf der Insel gefangen und kann nur zurück mit dem Flugzeug.“ Je näher der Rückflug, desto größer die Ängste, die Schlaflosigkeit.
„Wieso nicht ganz vielen Menschen in kurzer Zeit helfen?“
Knaup wird an Bord sein am 25. Februar. Die Gruppe von insgesamt 600 Menschen ist die größte, die die Psychologen, Psychotherapeuten und Angstlöser der Ruhr-Universität Bochum jemals zusammengestellt haben. „Wir haben uns gefragt: Wieso nicht ganz vielen Menschen in kurzer Zeit helfen?“, sagt der Therapeut und Forscher Andre Wannemüller: „Effizienz ist sinnvoll in der Psychotherapie, weil man endlos auf eine Behandlung wartet.“
Flugangst ist keine eigene Phobie, weil sie verschiedene Ursachen haben kann. Die Angst, sich einer unbekannten Technik oder zwei fremden Menschen im Cockpit auszusetzen. Die Angst vor diesen komischen Geräuschen. Die Angst, gefangen zu sein. Ums Leben zu kommen. „Die Vorstellung, eine Panikattacke zu bekommen und nicht weg zu können.“
Die Leute werden der Situation ausgesetzt, um zu lernen, dass nichts passiert
Die Palette möglicher Ängste ist breit, sehr breit. Spinnen, Höhe, Enge, Blut, Spritzen - es gibt keine Angst, die es nicht gibt. Sie sind aber ganz gut behandelbar durch das, was sie in der Fachwelt „theraput:innenbegleitete Exposition“ nennen. Auf Deutsch würde man sagen: Die Leute werden der Situation ausgesetzt, die sie fürchten, um „Erfahrungen zu machen, die der eigenen Angsterwartung widersprechen“, sagt Wannemüller.
Allein wegreden kann man solche Ängste nämlich nicht. „Es ist nicht damit getan, dass man über Wahrscheinlichkeiten redet, sonst könnten wir uns den Flug sparen“, sagt der 43-Jährige. Viele Menschen mit Flugangst informierten sich im Gegenteil sehr gut. „Sie wissen alle, das Risiko ist nicht hoch, aber sie denken nur: Wenn es passiert, war es das.“
„Mit Statistik braucht man mir nicht zu kommen“
Folgerichtig sagt auch Tobias Knaup, der sich jetzt therapieren lassen will: „Mit Statistik braucht man mir nicht zu kommen. Ich denke viel an Schicksal. Ich weiß sehr viel über Abstürze und was da passiert ist.“ Tatsächlich verfolgt der 33-jährige Disponent aus Sprockhövel sogar eine Flug-App.
Circa 90 Minuten werden die Flugzeuge über Deutschland kreuzen, und auf je sechs verängstigte Passagiere kommt ein Therapeut, eine Therapeutin. Sie kennen die speziellen Ängste der Betreuten: Der eine will auf keinen Fall am Fenster sitzen, die andere würde nie aufstehen an Bord, nie.
Manches funktioniert für Person A bestens und für Person B gar nicht
Das Vorgehen der Begleiter in den vier Gruppen wird sich minimal voneinander unterscheiden, „damit wir erkennen, welche Strategie vielleicht sinnvoller ist als eine andere.“ Da die Umstände für alle gleich sind, komme man vielleicht auch der Antwort näher, „warum etwas für Person A bestens funktioniert und für Person B gar nicht“.
2019 sind die Bochumer mit einer wesentlich kleineren Gruppe ähnlich verfahren. Damals ergaben Nachfragen nach sechs Monaten und zwei Jahren, dass viele Teilnehmer danach weiter angstfrei fliegen konnten - durchaus auch mehrfach. „Viele hatten keine Angst mehr und brauchten keine Vermeidungsstrategien mehr“, sagt Wannemüller.
Interessenten können sich noch melden für die Therapie
Wer noch mitfliegen möchte, muss vorab an der Ruhr-Universität ein diagnostisches Gespräch führen: ob die Ängste auch wirklich so groß sind. Denn manche Menschen, die sich bisher schon gemeldet hatten, haben den vertieften Eindruck hinterlassen, dass ihre Angst deutlich kleiner war als ihre Lust auf einen Freiflug. Alle anderen können noch eine Mail schreiben an hilfe-bei-flugangst@rub.de.
Tobias Knaup, der noch nie Europa verlassen hat, möchte so gerne „etwas von der Welt sehen. USA.“ Im nächsten Sommerurlaub sieht er sich auf Sardinien. Der Plan ist, mit dem Auto und der Fähre dorthin zu kommen. Aber das muss ja nicht das letzte Wort sein.