Ruhrgebiet. Im Abwasser des Ruhrgebiets ist eine neue Corona-Welle zu erahnen: Die Emschergenossenschaft findet die Viren aller Bürger – weil jeder mal muss.

Die Herbstwelle ist vorbei, die Corona-Fallzahlen sind gesunken und schwanken derzeit nur leicht. Doch schwappt im Abwasser des Ruhrgebiets schon die Winterwelle? Der Blick ins Trübe trügt nicht: In den Kläranlagen von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) wächst die Viruslast.

Man sieht die Erreger nicht, aber gesund sieht es nicht aus, was da alle Viertelstunde über einen Schlauch aus dem Abwasser gezapft wird. Bräunlich, voller sichtbarer Sedimente steht die Flüssigkeit für einen Augenblick in einem gläsernen Gefäß, bevor es mit einem Blubbern gnädig in einer blickdichten Liter-Flasche verschwindet. 200 bis 300 Milliliter mischen sie auf der Kläranlage Bottrop in 24 Stunden zusammen, meist von Mitternacht bis Mitternacht. Ein bisschen Dortmund, Gelsenkirchen, Castrop-Rauxel, etwas Herne und Herten, einen Tröpfchen Bottrop und auch Bochum und Gladbeck, obwohl die Emscher dort gar nicht fließt. „Wir beproben hier das Einzugsgebiet“, sagt Klärmeister Aleksander Preuß, „nicht die Kläranlage.“

Man sieht sie nicht, aber sie sind drin: Im trüben Abwasser, das etwa in der Kläranlage Bottrop gereinigt wird, schwimmen Corona-Viren.
Man sieht sie nicht, aber sie sind drin: Im trüben Abwasser, das etwa in der Kläranlage Bottrop gereinigt wird, schwimmen Corona-Viren. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Emschergenossenschaft nimmt zweimal wöchentlich Proben

Was bedeutet: Nur das Gröbste ist raus. Hygienetücher etwa haben sich schon im Rechen verfangen, als nächstes geht das Abwasser in den Sandfang. Über den Klärbecken kreischen die Möwen, der Kühlschrank mit den 36 Proben heißt „WaterSam“ und ist meistens zu. Für die Laboranalyse wird ihr Inhalt zusammengeschüttet, ein halbes Glas davon wird untersucht. Die EU empfiehlt, Ergebnisse binnen zwei Tagen an die Gesundheitsämter zu schicken, bei der Emschergenossenschaft schaffen sie es inzwischen in 16 Stunden, und das zweimal in der Woche.

Damit gewinnen sie bei der Beobachtung des Infektionsgeschehens einen zeitlichen Vorsprung – und einen inhaltlichen auch. Denn längst nicht jeder lässt ja sich mehr testen, das wissen die Wissenschaftler, aber alle gehen aufs Klo. Es ist bei ihnen ein geflügeltes Wort geworden, denn „das Abwasser lügt nicht“, sagt EGLV-Sprecher Ilias Abawi. In der braunen Brühe, die aus Millionen Haushalten über den neuen unterirdischen Abwasserkanal in die Klärbecken zwischen Dortmund und Dinslaken fließt, schwimmen die Viren schon, bevor ein Patient erste Symptome hat. Und noch, wenn er längst wieder negativ ist. Zudem tummeln sich dort alle Covid-Erreger, die sich gar nicht öffentlich zeigen.

Mehr als Fallzahlen und Inzidenz: Im Abwasser ist die Welle früher zu sehen

Die Emschergenossenschaft nimmt deshalb schon seit Anfang der Pandemie regelmäßig Proben, aber erst seit Ende November weist das Land die Daten für alle sichtbar aus. Auf der Seite der Landeszentrale für Gesundheit steht das „Abwasserbasierte SARS-CoV-2 Monitoring“ nun neben den Faktoren, auf denen sich die Politik bei der Bewertung der Lage seit jeher stützt: der Sieben-Tage-Inzidenz und der Zahl der belegten Krankenhaus-Betten. Mit der breiten Datenbasis, frohlockte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, könnten „Entwicklungen differenzierter bewertet und Maßnahmen genauer an die Lage angepasst werden“.

36 Flaschen voller Abwasser: Im „WaterSam“ werden die Proben gekühlt.
36 Flaschen voller Abwasser: Im „WaterSam“ werden die Proben gekühlt. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Ersetzen können die Erkenntnisse aus dem Abwasser die bisherigen Daten allerdings nicht. Zu ungenau sind die Werte, wenn es viel geregnet hat – wie zuletzt Ende November/Anfang Dezember. Und noch wissen die Experten nicht, warum viel Regen auch viel Virus bedeutet: Mit dem sogenannten „Sprühstoß“, einer zunehmenden Wassermenge nach ordentlichen Güssen, steigt die Kurve, „die Fracht geht nach oben“, formuliert Dr. Jens Schoth. Trotzdem sei nun schon seit Mitte vergangenen Monats zu sehen, dass „die Viruslast anscheinend zunimmt“.

Wissenschaftler analysieren den Dreck des Reviers

Der Projektleiter bei der EGLV bleibt hörbar vorsichtig, er will erst „das Kanalsystem besser verstehen“. Noch steckt das Monitoring auch immer noch im Status eines Modellprojektes. In den Niederlanden entdeckten Kollegen das Corona-Virus im Abwasser zwar schon im März 2020, da waren gerade die ersten Krankheitsfälle bekannt. In Deutschland war das Forschungsgebiet noch weitgehend unbekannt, hier mussten Wissenschaftler erst die Brücken bauen, über die sie sich seither vernetzen: Wer ist zuständig, wer meldet wann was an wen? Die Fachbereiche „Gesundheit“ und „Umwelt“ arbeiten nun zusammen.

Emschergenossenschaft und Lippeverband sind an drei Forschungsprojekten beteiligt: COVIDready misst mit PCR-Tests die Virusrückstände im Abwasser und sucht gemeinsam mit den Universitäten Frankfurt und Aachen Varianten. Für SARS-GenASeq werden Proben etwa aus der Kläranlage Dinslaken genommen, ebenfalls um neue Corona-Varianten zu finden; die Analytik übernimmt die Uni Darmstadt. Beides wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Das jüngste Projekt, ESI-CorA, wird von der EU bezahlt, hier wird ebenfalls die Viruslast im Abwasser untersucht. Die Kläranlage Dinslaken des Lippeverbandes ist dabei einer von 20 Pilotstandorten in Deutschland.

Nicht jeder lässt sich testen, aber alle müssen mal zum Klo

Im Klärwerk Emscher-Mündung werden Proben genommen, unter anderem um neue Corona-Varianten zu finden.
Im Klärwerk Emscher-Mündung werden Proben genommen, unter anderem um neue Corona-Varianten zu finden. © FUNKE Foto Services | Heiko Kempken

Bis März 2023 sind die Mittel gesichert, ein gutes Vierteljahr also bleibt den Experten noch. Die wollen unbedingt weitermachen: Jens Schoth nennt das Abwasser-Monitoring einen „einfachen Baustein als Ergänzung“ der bisherigen Daten. Durch die Ergebnisse, heißt es bei der Emschergenossenschaft, würden Veränderungen im Infektionsgeschehen, „insbesondere anlaufende Wellen und neue Varianten im Abwasser, eher erkannt als durch Testungen“. Und: An die Daten sei „kostengünstiger“ zu kommen, sagt die EGLV-Chef Prof. Uli Paetzel, der von Aufwendungen von etwa 10.000 Euro pro Jahr und Kläranlage ausgeht. Und das, wie sein Projektleiter Jens Schoth sagt, „unabhängig von der Testbereitschaft der Bevölkerung“.

Nicht nur Mediziner fordern deshalb schon lange, das Abwasser-Monitoring dauerhaft auf feste Füße zu stellen. Zwar kann man aus der Viruslast nicht gleich sehen, wie viele Menschen in welcher Stadt akut krank sind. Und der nicht mehr gefährliche Erreger bleibt auch noch nachweisbar, wenn der Patient längst wieder negativ ist. Aber aus dem Potenzial ergeben sich bei den Experten längst die nächsten Fragen: Ist die Technik auch auf andere Krankheiten anzuwenden, was ist mit Antibiotika-Resistenzen, was, wenn die nächste Epidemie kommt? Emschergenossenschaft und Lippeverband jedenfalls wissen aus dem Abwasser jetzt zu lesen.

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>>CORONA-MONITORING IM RUHRGEBIET

Am Abwasser-Monitoring in der Corona-Pandemie sind landesweit zehn Kläranlagen beteiligt. Emschergenossenschaft bzw. Lippeverband sind mit diesen dabei: Kläranlage Emscher-Mündung, Kläranlage Duisburg-Alte Emscher, Kläranlage Bottrop, Kläranlage Dortmund-Deusen, Kläranlage Dortmund-Scharnhorst, Kläranlage Dinslaken.