Köln/Ruhrgebiet. Wie fühlt es sich an, schuldig zu sein an einem tödlichen Autounfall? Illegale Straßenrennen sollen nun in der Schule besprochen werden.
Das Wrack auf dem Schulhof macht die Jugendlichen ungewöhnlich ernst. Der Realitätsschock scheint zu wirken: Den roten Audi TT RS hat es vorne aufgerissen, in Filmen sieht man solche brutalen Verformungen zwar ständig, aber nie in Ruhe, die Schüler stehen dicht gedrängt herum. „Krass“ sagen sie und „heftig“, aber Sprüche bringt keiner, denn sie haben ja gerade die Geschichte zu diesem Wrack auf dem Anhänger gehört: Per WhatsApp hatte sich der Fahrer 2008 mit einem Motorradfahrer zum Rennen verabredet. Eine Serpentinenstraße. 200 km/h zwischen den Kurven. Kontrollverlust, Gegenverkehr. Heiko A. war sofort tot, der Fahrer eines Opels. Sein Sohn, zehn Jahre alt, aus dem Fenster geschleudert. „Er kämpft sich noch immer ins Leben zurück, hat der Polizist den Schülern erklärt.
Fahrer, Opfer, Richter – die Schüler schlüpfen in Rollen
Solche Straßenrennen haben enorm zugenommen, mit schrecklichen Folgen, darum soll die Prävention nun Schulstoff werden. Kern ist eine nachgestellte Gerichtsverhandlung, bei der sich die Schüler in Fahrer, Opfer, Richter hineinversetzen sollen. Flankiert wird das Ganze von einem interaktiven Kurzfilm mit verschiedenen Fortsetzungsmöglichkeiten. Die Schüler sollen urteilen und darüber ihre Urteilsfähigkeit schärfen. „Aber egal welche Strafe ich dem Fahrer gebe, die Schuld wird er sein ganzes Leben tragen müssen“, sagt NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU), als sie das Unterrichtskonzept „Verantwortung stoppt Vollgas“ in der Kölner Gesamtschule Rodenkirchen vorstellt, gemeinsam mit NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU). Auch in Duisburg, Recklinghausen, Wuppertal und Aachen soll das Konzept ausprobiert werden. Ob sie die fünf bis sechs Unterrichtsstunden als Projekttag gestalten oder verteilen bleibt ihnen überlassen. Bei Erfolg wird es nächstes Jahr landesweit angeboten.
Aber trifft man in dieser elften Stufe überhaupt die Zielgruppe? Die meisten stehen kurz vorm Führerschein – oder fahren schon mit ihrem 125er Roller über die Autobahn mit 110 Stundenkilometern wie Elias: „Ich fahre generell vernünftig, mein Vater hat mir schon Horrorstories vom Motorradfahren erzählt. Aber ich kenne auf jeden Fall auch Leute, die sich nicht an die Regeln halten. Die machen mit ihren Rollern Wheelies, fahren zu schnell, versuchen zu imponieren.“ – Und klappt das? – Elias lacht. „Natürlich nicht. Ich kenne kein Mädchen, das sagt: Der Typ da drin ist voll hässlich, aber die Karre macht ihn schön.“
Fast alle sind junge Männer
Tatsächlich sind die Unfallfahrer bei illegalen Rennen fast alle junge Männer, im vergangenen Jahr waren die meisten erst 18, im Durchschnitt waren sie knapp 26 Jahre alt, heißt es aus dem Innenministerium. Oft mieten oder leasen sie hochmotorisierte Protzkarossen, um damit am Wochenende in der Stadt Gas zu geben. Nur selten geschehen Unfälle außerorts oder auf Bundesautobahnen – dort gibt es ja kaum Publikum. Die wenigsten Beschuldigten stehen übrigens unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen.
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Seit 2017 sind Straßenrennen verboten (§315 StGB), trotzdem ist ihre Zahl geradezu explodiert, was nicht nur an mehr Kontrollen zu liegen scheint. In der Pandemie war einfach vielen langweilig, glauben Polizisten. 335 Rennen flogen im ersten Jahr der Zählung auf in NRW, diese Zahl verdoppelte sich innerhalb von zwei Jahren und noch einmal im Folgejahr, dem Beginn der Corona-Krise. 2021 wurden schließlich über 2000 illegale Rennen gezählt. Im laufenden Jahr sinkt die Zahl wieder, es sind bislang deutlich über 1000.
Allerdings kam es zu so vielen schwersten Unfällen wie noch nie, seit der Straftatbestand eingeführt wurde: Ende Februar im Kreis Wesel: 3 Tote. Anfang März in Bielefeld: ein Toter. April im Märkischen Kreis: ein Toter. Zwei Tage später in Gütersloh: ebenfalls ein Getöteter. Mitte Mai in Bochum: erneut ein Todesopfer. Ende August, wieder im Kreis Wesel: ein Toter. Acht Menschenleben ausgelöscht durch irrsinnige Raserei. Die Zahl der Verletzten liegt natürlich höher. In Dortmund, einem Schwerpunkt der Szene, kam zuletzt auf etwa jedes neunte der 120 Rennen ein Verletzter.
Die Mittelinsel übersehen
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Der Todesfahrer von Bochum stand zeitgleich mit der Vorstellung des Präventionsprojekts vor Gericht. Mit Alkohol, Cannabis und Kokain im Blut hatte der 21-jährige Handwerker eine Mittelinsel übersehen, als er mit einem Arbeitskollegen im Golf durch die Stadt raste. „Vorbeigeballert wie die Wahnsinnigen“, nannte es ein Polizist vor Gericht, der die Szene auf dem Werner Hellweg zufällig beobachtet hatte. Mit seinem Audi A6 krachte der junge Mann unter einen Sattelzug, der rechts geparkt hatte. Sein Beifahrer, ein weiterer Arbeitskollege, starb noch vor Ort, er wurde 26 Jahre alt. Ein Urteil ist noch nicht gefallen, aber für illegale Straßenrennen drohen, selbst wenn man alleine rast, zwei Jahre Haft. Wenn Menschen gefährdet werden fünf, und wenn sie verletzt werden zehn Jahre. Dem Golffahrer wird übrigens fahrlässige Tötung vorgeworfen.
„Als ich in der vierten Klasse war, wurde ich auf dem Fahrrad angefahren“, sagt ein Elftklässler in Rodenkirchen. Seinem Freund fällt ein: „Ich war neulich mit dem E-Roller unterwegs und hatte Kopfhörer drin. Deswegen habe ich das Hupen nicht gehört. Das Nummernschild des Autos hat mich haarscharf verfehlt.“ Es sind Momente, die hängen bleiben, sagen die beiden. Aber natürlich haben auch sie einen Kumpel, der seinen Roller illegal schneller gemacht hat. „Auf der Straße sind Rennen gefährlich, aber auf der Rennstrecke ist es legitim.“ – Aber ist das realistisch? Zu welcher Rennstrecke geht denn der Kumpel? „Der hat eine große Halle.“ – Und da fährt er dann mit seinem superschnellen Roller im Kreis?
Die Szene ist nicht leicht zu beeindrucken
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Aber natürlich ist nicht jeder Tuner ein Raser, auch die Polizei differenziert hier und kennt noch die dritte Kategorie der „Poser“, der Angeber. Mit aufwendigen Kontrollen versucht die Polizei die Szene zu beeindrucken. Bis zu 10.500 Euro mussten die Täter in Dortmund im vergangenen Jahr zahlen, bis zu 30 Monate ihren Führerschein abgeben. Manchmal beschließen die Gerichte auch, die eingezogenen Fahrzeuge zu beschlagnahmen. Am Ringwall in Dortmund, eine Strecke, die Raser notorisch mit einer Carrerabahn verwechseln, herrscht nun in der Nacht Tempo 30. Dennoch kracht es im Ruhrgebiet jeden Monat irgendwo.
Manch ein Täter mag sich „fast & furious“ fühlen, „schnell und rasend, wie die gleichnamigen Filme. Auch die sind natürlich Thema auf dem Schulhof. „Ich finde die Filme auch gut. Aber natürlich verherrlichen die das Rennenfahren ein wenig“, sagt Lars. „Meine Eltern haben mir schon immer in den kopf gepresst, dass man das auf keinen fall darf. Das moralische Empfinden bekommt man eben am besten von den Eltern mit.“ – Aber wenn die es eben nicht vermitteln? Dann hilft vielleicht das Projekt „Verantwortung stoppt Vollgas“, Bewusstsein zu schaffen, „dass es unendliches leid bedeuten kann, wenn man einen Fehler auf der Straße macht“, sagt Innenminister Herbert Reul in der Aula. „Wenn man es toll findet, ein Auto unterm Popo zu haben und ordentlich Gas zu geben. Wenn Sie einen Führerschein haben, sind Sie verantwortlich.“