Essen. Ein Großprojekt, das im Plan bleibt? Wo gibt’s denn sowas? – An der Emscher. Wie das geht, erklärt Uli Paetzel, Chef der Emschergenossenschaft.

Es ist die Woche der Emscher. Die Region feiert am Donnerstag ihre neue Mitte mit einem großen Festakt. Nach 30 Jahren Bauzeit sind die Emscher und ihre Bäche abwasserfrei – wie geplant. Wirsprachen mit Uli Paetzel, Chef der Emschergenossenschaft, darüber, was man von diesem Generationenprojekt lernen kann – und wie es weitergeht.

Willy Brandt versprach den blauen Himmel über der Ruhr. Recht genau 60 Jahre danach kommt Kanzler Scholz zur Emscher und pflanzt Wein – nur ein Festakt?

Im Gelsenkirchener Nordsternpark wäre Platz für einen Emscherstrand. Die Emscher verläuft links im Bild, parallel zum deutlich breiteren Rhein-Herne-Kanal.
Im Gelsenkirchener Nordsternpark wäre Platz für einen Emscherstrand. Die Emscher verläuft links im Bild, parallel zum deutlich breiteren Rhein-Herne-Kanal. © Rupert Oberhäuser | imago stock

In der Region haben wir das Feiern von Erfolgen verlernt –oftmals hatten wir vielleicht auch gar keinen Anlass dazu. Das dürfte beim Emscher-Umbau anders sein: In den vergangenen drei Jahrzehnten haben wir eine extrem dicht besiedelte Region sozial-ökologisch umgebaut, haben Kanäle verlegt, Pumpwerke gebaut, teilweise unter und neben Autobahnen und Wohngebieten. Wir haben diese Mammutaufgabe im geplanten Zeitrahmen fertiggestellt und auch fast im Kostenplan. Das ist ein Riesenerfolg. Da muss man auch einmal einen großen Festakt veranstalten und sagen: Guckt mal, wir haben das gemeinsam geschafft. Wir als Region können das – und in Zukunft schaffen wir noch viel mehr.

Man hat vor 30 Jahren mit 4,2 Milliarden Euro gerechnet, nun sind es 5,5 Milliarden geworden. Sind auch ein paar Sachen nicht so gut gelaufen?

Neun Milliarden D-Mark waren 1991 die ursprüngliche Kalkulation, final liegen wir nur knapp 20 Prozent darüber. Das Projekt ist immer wieder aufgrund behördlicher Anforderungen weiter optimiert und angepasst worden. Bei unserem zentralen Abwasserkanal Emscher von Dortmund bis Dinslaken gab es zum Beispiel im Laufe des Planfeststellungsverfahrens die Forderung: Der Kanal muss hundert Jahre halten. Kein anderer Kanal in der Republik muss diese Anforderung erfüllen. Das hat dazu geführt, dass wir mit dem Fraunhofer Institut ein spezielles Schadenserkennungs- und Reinigungssystem entwickeln mussten. Auch in Fragen der Abschläge aus Regenwasserbehandlungsanlagen haben sich die Anforderungen im Laufe der Jahre geändert. Über zwei bis drei Jahre hatten wir etwa einen Genehmigungsstau, etliche Projekte lagen auf Eis. Aber auch das haben wir letztlich lösen können. Natürlich gab es auch unsererseits Fehler: Hier ist mal die Baustellenkommunikation schief gelaufen, dort hat mal eine Maßnahme etwas länger gedauert. Ich denke, wir sollten daran arbeiten, eine gesellschaftlich akzeptierte Fehlertoleranz zu etablieren.

Welche Lehrern kann man für andere Großprojekte ziehen?

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Die zentrale Botschaft wäre, dass man die Entscheidung, ob man vernünftigerweise baut, so spät wie möglich trifft – und nicht zu früh mit nicht zu Ende kalkulierten Zahlen rausgeht. Wir erleben, dass wir all die Straßen, Brücken, Wege, die wir seit den 60ern aufgebaut haben in den 90ern und 2000ern nicht genug unterhalten haben. Nun stellt sich die Frage, wie wir die Infrastruktur so weiterentwickeln können, dass wir nicht Gewinne privatisieren und Verluste dem Staat aufzwingen. Der Markt alleine wird es nicht richten.

Wir erleben beim Thema Wohnen und Mieten, dass die marktwirtschaftlichen Modelle in München oder Berlin gar nicht funktionieren, dass das Grundrecht der Menschen auf bezahlbaren Wohnraum nicht erfüllt wird. Städte wie Wien aber zeigen, dass es geht, wenn man mit Genossenschaften und öffentlich-rechtlichen Einrichtungen arbeitet, wenn man die Wirtschaft anders einbezieht. Wir brauchen eine zentrale Infrastrukturoffensive für unser Land, bei der wir in anderen Strukturmodellen denken.

Welche Rolle spielt das Modell der Genossenschaft?

Es zeigt, dass wir nicht auf den Staat warten müssen, sondern die Probleme selbst angehen. Kommunen, Bergbau und Industrie sind bei uns Mitglied, von Evonik bis zur Fiege-Brauerei. Dadurch sind wir gezwungen, Lösungen zu finden, wo auch die Wirtschaft sagt: Das ist okay. Zugleich unterliegen wir nicht einer kurzfristigen Profitlogik, wir reden nicht über Quartalsergebnisse und darüber, dass wir nur dann in Projekte einsteigen, wenn wir eine absurde Marge haben. Genossenschaften allgemein zeigen, dass man auch mit vernünftigen Margen langfristig wirtschaften und Beteiligte mitnehmen kann – im Unterschied wiederum zur Emschergenossenschaft, die ein Non-Profit-Verband ist.

Die Emscher ist abwasserfrei, aber bis 2027 sollen der Unterlauf und die Bäche renaturiert werden – wo liegen hier die Herausforderungen?

Das Interview bei der Emschergenossenschaft: Uli Paetzel, Alexander Marinos und Thomas Mader.
Das Interview bei der Emschergenossenschaft: Uli Paetzel, Alexander Marinos und Thomas Mader. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Die größte Herausforderung liegt beim Thema Deiche. Wir haben eine neue DIN-Anforderung und müssten an einigen Stellen neu und viel breiter bauen, was im Ruhrgebiet praktisch nicht möglich ist. Wir müssen also in die vorhandenen Deiche Spundwände einlassen, vor allem westlich von Gelsenkirchen. Es liegen aber Leitungen in den Deichen und das konkrete Bauverfahren müssen wir erst entwickeln. Die Aufgaben gehen uns auch sonst nicht aus: Schon Anfang 2024 wird die Kläranlage in Dortmund-Deusen um eine weitere Reinigungsstufe erweitert sein, die deutlich mehr Medikamentenrückstände aus dem Wasser filtern kann. In den Hochzeiten des Emscher-Umbaus haben wir bis zu 700 Millionen Euro pro Jahr investiert. Künftig werden wir weiterhin bis zu 400 Millionen pro Jahr in der Region investieren.

Wir erleben gerade eine ungeahnte Teuerung. Werden Sie die Kosten auch künftig im Plan halten können?

Wenn es nur um die reinen Baukosten ginge, würde ich mir keine großen Sorgen machen, aber neben den gestörten Lieferketten und den knappen Rohstoffen sind die Energiepreise, wie etwa für Gas und Strom, die zentralen Probleme. Wir haben den überwiegenden Teil unseres Stromverbrauchs für 2023 schon fixiert. Aber wenn der Strompreis auf dem aktuellen Niveau bleibt oder gar weiter exorbitant ansteigt, dann sieht das noch einmal anders aus. Als energieintensive Branche müssen wir als Wasserwirtschaft auf unseren Anlagen Energieautarkie anstreben – in sehr kurzer Zeit. Zu schaffen ist das mit Wind, Photovoltaik, Geothermie und auch Wärmeenergie aus Abwässern. Unsere Kläranlage in Bottrop ist bereits vollständig energieautark. Im Emscher-Gebiet erzeugen wir bereits deutlich mehr als die Hälfte unserer Energie selbst, aber das wird auf Dauer natürlich nicht reichen.

Trockenheit und Starkregen sollen zunehmen, die Städte müssen sich anpassen, wie kann das aussehen?

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Wir müssen uns viel mehr Bäume und Grün in den Städten vorstellen. Wir brauchen unterirdische Speicher, die Wasser wieder automatisch an die Natur abgeben. Und der Regen muss ins Grundwasser versickern können. Wenn Sie in Bochum unterwegs sind, ärgern Sie sich wahrscheinlich über die Baustelle an der Hattinger Straße. Dort wurden alte Straßenbahngleise zurückgebaut, neue Kanäle verlegt und stattdessen Muldenrigolen verbaut. Diese speichern Regenwasser, auf das der darüberliegende neue Grünstreifen zurückgreifen kann. Bei allen großen Straßen haben wir gemeinsam mit den Kommunen nun die Vereinbarung getroffen, dass wir solche Rigolen-Systeme wo immer möglich miteinbauen.

Wenn nun mehr Wasser versickert und wir auch noch alle kürzer duschen, beginnt dann nicht unsere Kanalisation zu stinken wie früher die Emscher?

Nein, davon gehen wir nicht aus. Im Zweifel sind wir ohnehin verpflichtet, Kanalabschnitte, in denen das Abwasser länger steht, zu spülen. Aber diese Bereiche müssten schon arg bevölkerungsentlastet sein.

Sie sind auch zuständig für den längsten Fluss von NRW. Was kann die Lippe von der Emscher lernen – und umgekehrt?

In den 70er-, 80er-Jahren gab es noch Schaumberge auf der Lippe, wir hatten seinerzeit viele Wassereinleitungen aus den Kraftwerken. Nun gibt es in der Lippe eine große Artenvielfalt, der Fischaufstieg von der Mündung flussaufwärts ist gut gelungen, der Biber ist ebenfalls schon lange wieder an der Lippe heimisch. Diese ökologische Entwicklung hat die Emscher noch vor sich. Auch diese neue Wahrnehmung können wir von der Lippe lernen: Mensch, ist das hier schön! An der der Emscher wird es genauso kommen, da bin ich mir sicher: Wer hätte denn gedacht, dass auf einem ehemaligen Stahlwerk, das man zum Phoenix See umgebaut hat, der Eisvogel wieder einzieht, oder die Blauflügelige Prachtlibelle. Muscheln und Schnecken werden genauso wieder an der Emscher zu finden wie heute bereits Bachflohkrebse, erste Fische wie Groppen und Stichlinge sowie die seltene Gebirgsstelze.

In Hamm ist ein 500 Meter langer Strand an der Lippe entstanden – finden Sie dafür nicht auch noch einen Abschnitt im Revier?

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Ja, ganz klar, das ist unser Ziel: Der Emscher-Strand muss zurückkommen, im Idealfall in den kommenden zehn Jahren. Wir wissen aber auch, dass die Emscher so schnell keine Badewasserqualität bekommen kann. Dafür war die Emscher einfach zu lange industriell belastet. Trotzdem wollen wir die Menschen an die Emscher bringen. Wir werden ohnehin nicht so viel Wasser im Fluss haben, dass man wirklich darin baden könnte. Oder man schaut sich noch mal das Naturschwimmbecken am Wasserkreuz in Castrop-Rauxel an, das wäre auch eine Variante.

Wir haben jetzt schon die Blauen Klassenzimmer, wo Kinder mit den Bächen umgehen. Natürlich muss an einer oder an mehreren Stellen auch so was wie ein Emscherstrand kommen, neben den Auen, wo sich die Natur in Ruhe entwickeln kann, müssen wir solche Highlights, eine Aufenthaltsqualität schaffen. So wie es im Schalker Lied heißt: „Opa Pritschikowski vom schönen Emscherstrand ist in Schalker Kreisen als Maskottchen gut bekannt.“ Ich könnte mir den Nordsternpark vorstellen, aber auch Oberhausen wäre eine Möglichkeit. Wir müssen einfach auch immer wieder verrückte Ideen entwickeln, um die Menschen für unsere Themen zu begeistern.

Die Emschergenossenschaft betreibt schon die Kanalnetze von Hamm und Nordkirchen. Verhandeln Sie mit weiteren Städten?

Ja, das tun wir sehr aktiv. Wir hoffen, dass wir diesbezüglich im Herbst eine neue Botschaft verkünden können. Zu Brücken und Radwegen sind wir ebenfalls in Gesprächen. Bochum etwa hat den Beschluss gefasst, jedes Jahr 20 Kilometer Radwege zu bauen. Hier bieten wir uns unseren Mitgliedern als Dienstleister für Infrastrukturaufgaben an. Die Vorteile für die Stadt: Wenn man bei uns Mitglied ist, kann man uns ausschreibungsfrei beauftragen. Das macht es deutlich schneller. Wir sind nicht gewinnorientiert und kalkulieren nur die realen Preise.

Sie wachsen durch diese Aufträge?

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Ja, wir haben aktuell 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Allein in den vergangenen sechs Jahren sind knapp 150 Beschäftigte dazubekommen. Die Tendenz wird weiter steigend sein, weil neue Themen dazukommen werden, von kommunaler wie industrieller Seite. Die Bündelung an einer Stelle bringt eine höhere Kompetenz als großen Vorteil mit sich. Über unsere Ingenieur-Tochter, die Emscher Wassertechnik, sind wir gerade dabei, unsere Kompetenzbereiche zu erweitern. Wir haben das im Statikbereich schon gemacht, jetzt im Automatisations- und Brückenbereich.

Wie müsste das nächste Generationenprojekt für die Region aussehen?

Uli Paetzel im Emscher-Saal, dem denkmalgeschützten Konferenzraum der Emschergenossenschaft
Uli Paetzel im Emscher-Saal, dem denkmalgeschützten Konferenzraum der Emschergenossenschaft © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Die Region muss den Mut haben, sich zu einer echten Metropole zu entwickeln und einen zukunftsfähigen Nahverkehr aufzubauen. Dazu gehört die Schaffung einer Infrastruktureinheit, vielleicht eine Genossenschaft, die Bau, Betrieb und Planung aus einer Hand durchführt. Da müssen alle Fragen der Zukunft, alternative Antriebe, automatisiertes und autonomes Fahren, mit eingebracht werden. Hier haben wir die größte Baustelle im Ruhrgebiet, die die Region bisher nicht bereit ist, richtig anzugehen.

Wie sieht es an der Emscher in weiteren 30 Jahren aus?

Im Jahr 2050 wird das Emscher-Gebiet ein blaugrünes Naturparadies sein, mit zahlreichen ökologischen Schwerpunkten, die wie bei einer Perlenkette entlang des Flusses zu finden sein werden. Es beginnt mit der Quelle im ländlichen Holzwickede. Wir haben in Dortmund mit dem Phoenix See die erste Perle in der Großstadt. In Castrop-Rauxel werden wir über zwei Hektar Weinberg haben, auf der weiteren Strecke wird es wie zum Beispiel in Oberhausen-Holten oder an der Mündung in Dinslaken und Voerde immer wieder Naturauen und Highlights geben, die weit in die Quartiere hineinstrahlen werden. Nicht nur für die Naherholung, auch für die Wohnwerteentwicklung. Für den Aufbruch der Region, den der Abschluss des Emscher-Umbaus einleitet!