Ruhrgebiet. Künstliche Intelligenz in der Medizin kann helfen, die Patientenversorgung zu verbessern, sagen Wissenschaftler. NRW zählt zu den Vorreitern.
Im Gesundheitsbereich hat die digitale Revolution begonnen – und NRW ist weit vorn dabei. Das „Atlas-Projekt“ der Uni Witten/Herdecke listet mehr als 200 „Leuchtturmprojekte“ im Land auf, von „AdAm“ bis „Zukunft Geriatrie; hier wie an den anderen Revier-Unis wird intensiv zum Thema geforscht. Ein Schwerpunkt: Was bringt Künstliche Intelligenz in der Medizin dem Patienten?
Bochum: KI soll helfen, Lungenentzündung bei Intensivpatienten zu verhindern
Dr. Hartmuth Nowak leitet das „Zentrum für Künstliche Intelligenz, Medizininformatik und Datenwissenschaften“, Anfang August ging es am Knappschaftskrankenhaus Langendreer, einem Klinikum der Ruhr-Universität Bochum an den Start. Das hehre Ziel: durch die Entwicklung cleverer Algorithmen irgendwann jedem Patienten „eine individualisierte Behandlung“ zu ermöglichen. Der Weg dahin: Aus der „unglaublichen Menge“ an Patientendaten, die man bereits jetzt sammele „sinnvolle medizinische Anwendungen abzuleiten“, sie nicht nur für die Dokumentation zu nutzen.
Das iPad hat im Knappschaftskrankenhaus längst die „Papierkurve“ ersetzt. Nun sollen alle medizinischen Daten wie Laborwerte, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Beatmungsparameter, Diagnosen oder Therapien zusammengeführt, aufbereitet und in ein einheitliches Format überführt werden. „Das ist die größte Herausforderung“, sagt Nowak. Denn der Nieren-Laborwert etwa heiße ja keineswegs in jeder Klinik Kreatinin und würde auch nicht überall in derselben Maßeinheit gemessen… Im nächsten Schritt will man Algorithmen entwickeln, die verlässliche „Vorhersagen zu medizinischen Verläufen“ ermöglichen, zu Behandlungserfolg oder Überlebenschance etwa.
Klare Empfehlungen; eine noch abstrakte Idee
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Die Daten für rund 500 Intensiv-Patienten der eigenen und anderen Kliniken sind im Rahmen von zwei früheren Forschungsprojekten bereits in Datenbanken überführt worden. Deshalb sollen die ersten Anwendungen im Bereich der Intensivmedizin erprobt werden. „Wer sterben wird“, sagt Nowak, „lässt sich in diesem Bereich mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Wir wollen herausfinden, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.“ Er erhofft sich ein besseres Verständnis etwa für komplexe Krankheitsbilder wie Sepsis (Blutvergiftung), deren genauer Verlauf „noch immer nicht richtig entschlüsselt“ sei. Auch häufig auftretende Komplikationen, so eine weitere Idee, will man mithilfe der KI künftig vielleicht verhindern: „Wenn der Algorithmus beispielsweise vorhersagt, dieser oder jener Patient auf der Intensivstation wird in den nächsten drei Tagen eine Lungenentzündung entwickeln – könnte man das prophylaktisch behandeln.“ Dass die KI „klare Empfehlungen“ zur bestmöglichen Therapie oder für ein bestimmtes Medikament liefere, sei indes noch nur „eine abstrakte Idee, an der viel geforscht wird“.
Es gebe zudem noch Vorbehalte, räumt Nowak ein, „weil ein Arzt nicht versteht, wie ein Algorithmus funktioniert“. Da ist ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig“. Nowak, Intensivmediziner und Informatiker, zählt auch das zu den Aufgaben des neuen KI-Zentrums.
Witten: Durch „Social Media Mining“ neue Ansätze für Pharma-Studien finden
Prof. Sabine Bohnet-Joschko ist Inhaberin des Lehrstuhls für Management und Innovation im Gesundheitswesen an der Universität Witten/Herdecke, leitet das vom Land geförderte Forschungsprojekt zur Digitalisierung im Gesundheitswesen „Atlas“, das gerade bis 2027 verlängert wurde. Ihr jüngstes eigenes KI-Projekt ist eines im Bereich „Social Media Mining“: Sie untersuchte in Online-Foren von Selbsthilfegruppen, über welche Selbstmedikationsstrategien sich Long-Covid-Patienten austauschen, mit welchen Medikamenten sie sich zu helfen versuchen. 70.000 Posts wurden dafür mithilfe von KI ausgewertet. „Über Long Covid wissen wir viel zu wenig“, erklärt Bohnet-Joschko. „Der Leidensdruck ist sehr groß, doch es gibt keine spezifischen Medikamente, die helfen.“ Forscher auf der ganzen Welt arbeiteten aber daran – und auch daran, schon existierende Medikamente für die Long-Covid-Therapie weiterzuentwickeln. Ihr Projekt liefere sinnvolle Hypothesen für klinische Studien der Pharmaindustrie. Die Analyse der Posts förderte drei klare Cluster von Wirkstoffen zutage, die Erfolg versprechen könnten.
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Patienten verfügten über sehr viel Wissen, sagt die Wissenschaftlerin, „dass man nutzen kann“ – auch wenn das Thema KI in der Medizin „Experten-getrieben“ sei und in der Diagnostik begann. „Seine MRT-Bilder auswerten, kann der Patient nicht. Also fragten wir uns: Wo kann man ihn einbinden? Und bis zu 20 Prozent der Unterhaltungen in sozialen Medien drehen sich doch um Gesundheitsthemen.“ Die Auswertung von Onlineforen und Social-Media-Plattformen, hofft sie, könne zudem dabei helfen, „ungedeckte medizinische Bedürfnisse ausfindig zu machen.“
Essen: Selbstlernende Maschinen unterstützen die Einordnung radiologischer Bilder
Das „Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin“ (IKIM) wurde bereits 2020 gegründet – an der Essener Uniklinik, schon damals „Smart Hospital“, und heute als Vorreiter im Bereich der Digitalisierung deutschlandweit anerkannt. Prof. Jens Kleesiek vom IKIM-Vorstand ist Experte für „Medical Machine Learning“ – sein Team lehrt Computer, „Dinge besser zu machen, als Menschen allein es könnten“. Patienten mit Dekubitus zu versorgen etwa. Die Forscher entwickeln gerade „Werkzeuge“, die das Pflegepersonal bei der Behandlung solcher Druckliegegeschwüre unterstützen sollen. Mithilfe künstlicher Intelligenz ließen sich die Wunden exakt vermessen und klassifizieren, so sei leichter zu erkennen, ob die Umlagerung Besserung bringt. „Das entlastet das Pflegepersonal“, glaubt Kleesiek. In diesem Bereich wolle man zudem ein „Lehrarchiv“ aufbauen, „um über Essen hinaus etwas zu bewirken“.
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Grundlage des Medical Machine Learning sei dabei stets: den Computer mit möglichst vielen Beispielen zu „füttern“, ihn dann bestimmte Datenpunkte beobachten, daraus selbstständig lernen, vielleicht eine Diagnose erstellen zu lassen. „Nicht um Ärztin oder Pfleger zu ersetzen, sondern um sie zu unterstützen“, die Patientenversorgung so direkt oder indirekt zu verbessern, betont der Mediziner. „In anderen Bereichen ist das längst selbstverständlich. Denken Sie an die Einparkhilfe oder den Totwinkel-Assistenten der Autoindustrie.“
Mit Algorithmen gegen Dekubitus
Sehr viel „konsistenter“ als ein Mensch könne eine Maschine auch andere medizinische Bilder einordnen, solche von Tumoren etwa. Läge man einem Radiologen denselben Befund an zwei unterschiedlichen Tagen vor, käme er gar nicht so selten zu einer unterschiedlichen Einschätzung der Größe, weiß Kleesiek, selbst Facharzt für Radiologie (und promovierter Informatiker). Einer Maschine fehle die „Reflexion“, aber sie liefere „konsistente“ Ergebnisse, ermüde nie, lasse sich nicht ablenken. Sie könne zudem automatisch verschiedene, nicht auf den ersten Blick offensichtliche Informationen miteinander verknüpfen: Volumen, Größe, Ausdehnung, Lage und Textur des Tumors zum Beispiel – was bei der Therapie-Entscheidung helfe.
Die verschiedensten Gesundheitsdaten überhaupt erst „verfügbar“ zu machen, ist zweiter Schwerpunkt auch am IKIM. „Meist liegen solche Daten ja nicht strukturiert vor, sondern als Freitext, als Arztbrief etwa.“ Für die wenig einheitlich benannten radiologischen Bilder, die externe Patienten mitbringen, entwickelten die Forscher bereits ein entsprechendes Modell. Es erkennt automatisch, dass mit der Beschriftung „Thorax“ und „Oberkörper“ vielleicht dieselbe Körperregion gemeint sei – und dass das CT-Bild diese auch zeige, und nicht etwa den Bauch – „was durchaus vorkommt“, so Kleesiek.
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