Ruhrgebiet. Die Kirchen verlieren so viele Mitglieder wie noch nie. Doch die Austrittswelle wird gebremst durch eine Hürde: Man muss persönlich erscheinen.

Wenn er ein Gemeindemitglied verliert, schickt Mülheimer Pfarrer Christian Böckmann ein paar Fragen: Was hat Sie zu dem Austritt bewogen? Ist es der Umgang mit den Missbrauchsfällen? Haben Sie nie Kontakt zur Gemeinde bekommen? Ist ihnen die Kirche zu altmodisch oder zu modern? … Und meist bekommt er die Antwort, dass die mangelnde Bereitschaft, die Missbrauchsfälle aufzuarbeiten der Grund für den Austritt sei.

1,63 Prozent ihrer Mitglieder verließen im vergangenen Jahr die katholische Kirche: ein Höchstwert. Er liegt rund ein Drittel über dem des bisherigen Rekordjahres 2019. Im Erzbistum Köln, dem Epizentrum des Missbrauchsskandals, verdoppelten sich gar die Austritte. Allerdings verlor die evangelische Kirche fast ebenso viele Mitglieder durch Austritt: 1,4 Prozent. (Berücksichtigt man den Sterbeüberhang und Umzüge, schrumpften beide Kirchen sogar um je 2,5 Prozent.) Vermutlich würden die Zahlen noch höher ausfallen, gäbe es nicht eine Hürde in den Kirchenaustrittsgesetzen der Länder, die die Austrittswelle bremst: Man muss persönlich erscheinen. In NRW beim Amtsgericht oder beim Notar.

Das lange Warten auf den Austritt

Austrittstermine aber sind an vielen Amtsgerichten seit langem Mangelware. Auf Justiztermine.nrw.de werden sie nur drei Monate im Voraus vergeben; nur jeden Ersten gibt es neue Termine. Wer einen ergattern will, muss in der Regel früh aufstehen. Eine Abfrage zeigt: In kaum einer Ruhrgebietsstadt sind derzeit, Ende Juli, Termine verfügbar. Rühmliche Ausnahmen sind Hattingen und Bochum, wo man schon Anfang und Mitte August zum Zug kommen könnte. Auch in Oberhausen und selbst in Köln, wo das Amtsgericht personell aufgestockt hat, ist immerhin die zweite Septemberhälfte frei.

In Gladbeck könnte man sogar für den nächsten Tag einen bekommen, allerdings ist auch hier der Kalender bis auf wenige freie Termine durchgehend belegt. Grundsätzlich stellen alle Städte Zeiten wieder ein, sobald Interessenten absagen. „Aber wenn es unbedingt schnell gehen muss, kann man auch zu den normalen Öffnungszeiten vorbeikommen“, sagt Michael Schütz, Sprecher des Amtsgerichts Essen. „Wir versuchen dann, die Leute dazwischen zu schieben.“ Empfehlenswert ist dieser Weg jedoch nicht. Der Erfolg ist ungewiss. Das Amtsgericht Mülheim etwa hat 140 Austritte pro Monat zu bewältigen, ein Anstieg von etwa 60 Prozent zum Vorjahr.

Auch beim Notar muss man persönlich erscheinen

Die Lockdowns haben den Bearbeitungsstau verschärft. Das haben auch die Notare gemerkt, die im Winter sehr viel häufiger beauftragt wurden, die Unterschriften auf den Austrittsschreiben zu beglaubigen. „Seitdem hat sich die Lage allerdings beruhigt“, sagt Notar Michael Uerlings, Sprecher der Rheinischen Notarkammer. „Aber wir verzeichnen immer noch deutlich mehr Anfragen als früher.“ Notare können Austrittsschreiben beglaubigen, die man dann per Post ans Gericht schickt. Allerdings müssen Austrittswillige auch beim Notar persönlich vorstellig werden. Und zusätzlich zu den Gerichtsgebühren von 30 Euro werden für die Beglaubigung der Unterschriften Notarkosten ab 30 Euro fällig. Der Vorteil: Termine gibt es sehr kurzfristig.

Pfarrer Christian Böckman leitet zwei Mülheimer Pfarreien: St. Mariä Himmelfahrt in Saarn und St. Barbara in Dümpten.
Pfarrer Christian Böckman leitet zwei Mülheimer Pfarreien: St. Mariä Himmelfahrt in Saarn und St. Barbara in Dümpten. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Der Mitgliederschwund und der damit einhergehende Sparzwang prägen die Gemeindearbeit im Bistum schon lange. Christian Böckmann etwa ist zuständig für gleich zwei Großpfarreien: St.Mariä Himmelfahrt im Mülheimer Norden und St. Barbara im Süden, zusammen machen sie zwei Drittel der Stadt aus. „In unseren zehn Kirchen haben wir keinen hauptamtlichen Küster oder Hausmeister mehr. Das muss alles ehrenamtlich gestemmt werden. Das ist natürlich grenzwertig.“ Ehrenamtliche halten auch den Begräbnisdienst samt Trauerrede, „was eine intensive Schulung voraussetzt“. Sie bereiten die Kinder auf die Erstkommunion vor und Ehepaare auf die Trauung. „Zahlenmäßig geht das Ehrenamt zurück“, sagt Christian Böckmann, „aber inhaltlich verändert es sich.“ Laien übernehmen heute Aufgaben, die noch vor zehn Jahren zum Kern der Priesterarbeit gehörten. In der Krise mag auch eine Chance liegen, weil Kirche sich öffnen muss.

Weniger Spendensammler, Chormitglieder, Kümmerer

Wie sich nun der beschleunigte Mitgliederschwund auswirkt, ist auch für Böckmann schwer zu beurteilen, nach zweieinhalb Jahren Pandemie. Er sieht eher die langen Linien. Kolping- und KAB-Vereine haben schon seit Jahren mit Überalterung zu kämpfen, sie fusionieren oder stellen ihre Arbeit ein. Es gibt weniger Menschen, die Spenden sammeln, Grillfeste organisieren oder im Chor singen. Die Austrittswelle schmerzt vor allem, weil sie mit einem massiven Vertrauensverlust verbunden ist, auf den ein Pfarrer kaum Einfluss hat. „Es hat häufig mit Kardinal Woelki zu tun. Viele sagen: Vor Ort fühle ich mich wohl, aber der Austritt ist die einzige Möglichkeit meinen Protest zu zeigen.“

Einige spenden die gesparte Kirchensteuer der Gemeinde direkt, berichtet Böckmann. Andere müssen sparen – die Teuerung wird den Trend wohl noch einmal verschärfen „In einigen wenigen Antwortschreiben geben die Leute das als Grund an. Zum Beispiel: Wir haben uns so verschuldet, weil wir ein Haus bauen – da können wir gerade keine Kirchensteuer zahlen.“

Es geht an die Immobilien

Bislang sei der Mitgliederschwund „an der Kirchensteuer nicht eindeutig abzulesen“, erklärt Bistumssprecher Ulrich Lota. Die wirtschaftlich positive Entwicklung der letzten Jahre habe vieles aufgefangen. Allerdings sei abzusehen, dass die Kirchensteuern stetig abnehmen. „In der Regel treten ja Leute aus, die noch im Berufsleben stehen.“ Auch wechselten jetzt die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente. Einerseits brechen Einnahmen weg, andererseits steigen die Kosten extrem an, etwa für Energie. Es gibt also weniger Geld zu verteilen. Die karitativen Zwecke sollen möglichst nicht darunter leiden, erklärt Lota. „Caritas ist ein Wesenszug der katholischen Kirche.“

Den großen neuen Sparpläne gebe es nicht, sagt Lota. „Wir befinden uns in einem dynamischen Sparplan.“ Soll heißen: Es ist eine Dauerkrise. Wenn wir uns von einem so symbolträchtigen Gebäude wir dem Kardinal-Hengsbach-Haus trennen, ist das ein Zeichen, dass wir uns peu à peu kleiner setzen müssen.“ Das ehemalige Priesterseminar hoch über der Ruhr in Essen-Werden dient derzeit noch als Notunterkunft und Impfzentrum, im April verkaufte das Bistum das 50.000 Quadratmeter große Premium-Grundstück. Weitere Kirchengebäude werden folgen müssen.

>> Info: Kein Online-Austritt möglich

Um Sterbefälle anzuzeigen, genügt ein Anruf oder das Ausfüllen eines Online-Formulars. Auch die Abmeldung aus der Stadt kann man schriftlich erledigen. Der Kirchenaustritt aber werde in NRW weiterhin nicht in digitaler Form möglich sein, erklärte jüngst die Staatskanzlei. Zwar besteht eine Art „Digitalisierungspflicht“ durch das Onlinezugangsgesetz. Dem steht aber das Kirchenaustrittsgesetz entgegen, das „wegen der Bedeutung der Erklärung“ eine besondere Form vorschreibt. Man könnte es natürlich ändern. Berlin will das nun tun, die anderen Bundesländer haben jedoch keine solchen Pläne.

„Aus jedem anderen Verein kann man mit einem eingeschriebenen Brief austreten“, sagt Martin Budich von „Religionsfrei im Revier“, einem Ortsverein der Giordano-Bruno-Stiftung. „Kirchen sind Körperschaften öffentlichen Rechts. Darum erklärt man seinen Austritt nicht gegenüber der Kirche, sondern gegenüber dem Staat.“ Diese Konstruktion und der Zwang zum persönlichen Erscheinen würden zeigen „welche völlig überzogene Bedeutung den Kirchen vom Gesetzgeber zugemessen wird“.