Essen/Duisburg. Studenten haben Beschäftige zum Homeoffice befragt. Die neue Flexibilität schätzen viele. Aber sie fördert auch die Selbstausbeutung.
Wissenschaftler nennen es „interessierte Selbstgefährdung“. Umgangssprachlich kann man sagen: Das Homeoffice fördert die Selbstausbeutung. Zugleich schätzen Arbeitnehmer die neue Flexibilität. Und ihre Chefs haben gelernt, mehr zu vertrauen. Eine neue Studie der Uni Duisburg-Essen, herausgegeben vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), beleuchtet die neue Heimarbeit aus verschiedenen Perspektiven. Soziologiestudenten haben in vier Projekten Sachbearbeiter, Museumsangestellte, Nachwuchswissenschaftler und Väter befragt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, doch sie lassen Handlungsempfehlungen zu, glaubt IAQ-Direktorin Prof. Ute Klammer. Sieben Lehren aus dem Homeoffice:
1. Pendelzeit wird zu Arbeitszeit
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Wer zuhause arbeitet, spart sich den Weg zur Arbeit. Die gewonnene Zeit gehört natürlich dem Arbeitnehmer, doch sie wird nur zum Teil für Freizeit eingesetzt. „Manche haben das Gefühl, sich durch besonderen Fleiß das Vertrauen des Arbeitgebers verdienen zu müssen. Wir sehen, dass Pendelzeiten nur zum Teil der Familie zugute kommt, und auch in die Arbeit fließt“, erläutert Klammer. Manche Arbeitnehmer verzichten auch auf Pausenzeiten. Die Arbeitszeit wird also ausgedehnt. „Wir müssen sehr aufpassen, dass der Arbeitsschutz nicht hintenüberfällt.“
Gerade bei sehr weiten Arbeitswegen ergeben sich ungewöhnliche Effekte. Juniorprofessoren zum Beispiel wohnen häufiger nicht am Sitz ihrer Uni, da ihr Vertrag meist befristet ist. Hier ergeben sich größere Zeitbudgets, die oft für Fortbildungen und internationale Konferenzen eingesetzt werden. Auch hier fällt ja die Anreise weg, wenn digitale Formate die übliche Präsenzveranstaltung ersetzen. Aber die Mehrarbeit nimmt überproportional zu, gerade diese Gruppe neigt stark zur „interessierten Selbstgefährdung“.
2. Viele arbeiten trotz Krankheit
Viele Befragte sehen das Homeoffice offenbar als Alternative zur Krankschreibung. Wer sich vorher für eine Erkältung oder andere leichte Infekte einen Schein holte, um die Kollegen zu schützen, arbeitet nun einfach weiter zuhause. Für die Unternehmen hat dies außer der gewonnenen Arbeitszeit „den Vorteil, dass sich Erkältungswellen nicht mehr so auf die Produktivität der einzelnen Abteilungen auswirken“, schreiben die Studienautoren. Werden diese Umstellungen jedoch „allein den Arbeitnehmerinnen überlassen, kann das Arbeiten im Homeoffice gesundheitlich bedenklich sein“.
Ein solches „selbstausbeutendes“ Verhalten gab es lange Zeit vor allem bei Selbstständigen und freiberuflich tätigen Personen, doch schon vor der Pandemie stellten andere Studien fest, dass auch abhängig Beschäftigte bis hinein in Verwaltungsberufe zunehmend dazu neigten. Corona hat diesen Trend nur verstärkt.
3. Selbststrukturierung sollte nicht allein den Arbeitnehmern überlassen bleiben
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Homeoffice ist offenbar eine Typfrage. Viele Interviewpartner aus Verwaltungs- und Buchhaltungsberufen gaben an, ihnen falle die selbstständige Strukturierung des Arbeitstages schwer. Zudem fiel vielfach die Arbeitszeiterfassung weg. „Natürlich kommen manche damit besser klar“, sagt Ute Klammer. „Aber jeder kann es lernen. Es braucht allerdings auch Schulungen dafür. Zum Beispiel für den Umgang mit digitalen Tools und Routinen.“ Zudem: Manche Aufgaben kann man besser von Zuhause, andere besser vom Büro aus erledigen. Die Interviewten hielten es für zentral, dass es mit dem Arbeitgeber klare Absprachen geben sollte, was in welchem Umfang im Homeoffice erledigt werden sollte und was in der Firma.
4. Führungskräfte haben das Loslassen gelernt
Jedenfalls hat die Arbeitsmoral im Schnitt nicht gelitten, im Gegenteil. Viele Mitarbeiter haben sich stärker mit ihren Arbeitgebern identifiziert, weil sie die Prozesse im Unternehmen aktiver mitgestalten konnten und weil sie nun weniger über die Abarbeitung von Aufgaben und stärker über das Erreichen von Zielen geführt werden. Dies war vielen Interviewten nicht direkt bewusst, schreiben die Autoren, wurde aber deutlich durch Erzählungen über Bonuszahlungen und anderen leistungsorientierten Anreizen. Auf der anderen Seite haben auch Führungskräfte dazu gelernt und Vorbehalte abgebaut. Das „Führen in Distanz“ setzt mehr Vertrauen und das Gewähren von Freiheiten voraus.
5. Arbeitgeber müssen ins Homeoffice investieren
„Möbel sind ein großes Thema“, sagt Ute Klammer, „ein guter Stuhl, die Ausrichtung zum Fenster …“ Die gesamte Ergonomie, die in der Firma so wichtig ist, wird zuhause kaum überprüft. Viele Arbeitnehmer hatten vor der Pandemie keinen eingerichteten Arbeitsplatz zuhause und haben von eigenem Geld Geräte angeschafft. Hier besteht offenbar ein großer Nachholbedarf seitens der Unternehmen – und beim Thema Gesundheitsschutz.
6. Das Geschlecht spielt keine große Rolle, wohl aber die Elternschaft
Die Studienautoren hatten erwartet, dass die Pandemie Frauen stärker in die Hausarbeit drängt. Doch die meisten Interviewten gaben an, dass die Arbeitsteilung in der Familie sich nicht grundlegend geändert habe. „Die, die sich eher traditionell aufgeteilt haben, haben das auch in der Pandemie beibehalten“, sagt Ute Klammer. „Im besser gebildeten Milieu ist jedoch die Bereitschaft der Väter gestiegen, sich in die Familienarbeit einzubringen.“ Die Ergebnisse seien jedoch nicht repräsentativ.
Es gab auch einen Lerneffekt. „Es ist auf jeden Fall so, dass die erste Welle noch sehr stark von Unsicherheit geprägt war“, erklärte eine Befragte. „Wie bekommt man das überhaupt geregelt, ist das überhaupt so möglich? Wer macht jetzt Care-Arbeit? Wer ist wofür zuständlich? Wer kann wann wie viel arbeiten? Und das ist in der zweiten Welle einfach sehr viel routinierter gewesen. Es war einfach klar: wir können es schaffen und wir kriegen das hin.“„Mehrere befragte Juniorprofessorinnen nehmen eine Spaltung der wissenschaftlichen Welt in kinderbetreuende und kinderlose Wissenschaftler wahr“, schreiben die Autoren. So hätten Kinderlose deutlich mehr Zeit gehabt für wissenschaftliche Arbeiten.
7. Arbeitnehmer wünschen sich weiterhin Flexibilität
„Man kann sagen, dass viele das Potenzial des Homeoffice entdeckt haben“, sagt Ute Klammer. „Der überwältigende Wunsch ist da, weiterhin zuhause oder hybrid zu arbeiten.“ Unabhängig vom Thema Lockdown müsste das Homeoffice der Zukunft auf flexiblen und individuell gestaltbaren Arbeitszeitmodellen beruhen, fanden die Interviewten – und auf Freiwilligkeit.