Bochum. Zahnbehandlungsangst ist gar nicht selten. Meist ist sie Folge schmerzvoller Erfahrung als Kind. Doch es gibt Hilfe, selbst für echte Phobiker.
Es gibt Patienten, die trifft der Zahnarzt Hans-Peter Jöhren erst einmal draußen, im Park vor seiner Klinik in Bochum, auf einer Bank: Patienten mit soviel Angst vor der Behandlung, dass sie sich nicht einmal über die Schwelle einer Praxis wagen. Fünf bis zehn Prozent der deutschen Bevölkerung leiden an einer solchen mehr oder weniger stark ausgeprägten Furcht – an Zahnbehandlungsangst, im schlimmsten Fall sogar an einer Zahnbehandlungsphobie, erklärt Spezialist Jöhren, der auch Lehrbeauftragter der Uni Witten/Herdecke ist und dort zum Thema habilitiert hat.
Jeder fünfte bis zehnte also: vermeidet den Besuch beim Zahnarzt solange es eben geht, sucht erst dann Hilfe, wenn die Schmerzen unerträglich werden, gerät womöglich darüber in einen echten „Teufelskreis“. „Wir sehen die dollsten Sachen“, sagt Jöhren: Patienten, die sich abgebrochene Zähne mit Uhu selbst wieder anklebten; Patienten, die ihre Prothese 15 Jahre lang niemals aus dem Mund genommen und gereinigt hätten… Oft ist es dann auch Scham, die Betroffene hindert, sich behandeln zu lassen. Doch Zahnärzte seien „nicht so leicht schockiert“, versichert Jöhren. Er empfinde eher Mitleid mit seinen Patienten, „ich weiß doch, dass die nicht mit kaputten Zähnen auf die Welt gekommen sind….“.
Eine traumatische Erfahrung in der Kindheit ist oft Ursache der Probleme
Die Angst trifft Menschen jeden Alters und Geschlechts, „den Vorstandsvorsitzenden, der seine schlechten Zähne hinterm Vollbart versteckt, genau wie den armen Schlucker, der meint, er könne sich Zahnersatz finanziell gar nicht leisten“, berichtet der Bochumer Experte Im Schnitt sei ein Phobiker Mitte 30, wenn er käme, habe acht kaputte Zähne und fast neun Jahre lang den Besuch aufgeschoben. Gefährlich. Denn der Mund ist das „Eintrittstor“ in den Körper. Speisereste, Keime, Bakterien, die sich in kleinen, offenen Wunden ansiedeln, haben leichtes Spiel, kranke Zähne können auch das Herz krank machen. Jüngere Studien, erläutert Jöhren, zeigten, dass sie womöglich bei der Entstehung von Arteriosklerose eine Rolle spielen.
Doch wo rührt die Angst her? 86 Prozent der Betroffenen gaben in einer Umfrage eine traumatische Erfahrung (meist in der Kindheit) als Grund an: schlimme Schmerzen vor, während oder nach einer Behandlung beim Zahnarzt. Eine besondere Rolle spiele das „Modelllernen“ bei den Eltern, so Jöhren. Mehr als die Hälfte der Kinder, deren Mütter sich vor dem Zahnarztbesuch fürchten, tun das ebenfalls – aber nur 38 Prozent des Nachwuchses „furchtloser“ Mütter.
Verhaltenstherapie kann nicht nur Menschen mit Flugangst helfen
Die gute Nachricht: Angst vor Zahnarztbehandlung lässt sich kurieren. Diesen Zahn kann man Betroffenen tatsächlich ziehen, um ein recht treffendes Bild zu bemühen. 300 Angst-Patienten werden jährlich in der Zahnklinik Bochum behandelt, das Therapiezentrum ist spezialisiert auf Phobiker, Menschen mit besonders starker, krankhafter Angst „Man kann sie behandeln wie Menschen mit Flugangst. Mit Verhaltenstherapie“, sagt Jöhren, der während einer Weiterbildung zum Oralchirurgen auf das Thema kam. Seine Klinik arbeitet dafür mit ausgebildeten Psychotherapeuten zusammen. In der Regel seien drei Sitzungen der eigentlichen Zahnbehandlung vorgeschaltet. Die „Erfolgsquote“ liege bei 75 Prozent, sagt Jöhren.
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Wichtig sei eine ordentliche Anamnese, erläutert der Arzt, bei ihm gehört ein „Angstfragebogen“, den die Patienten auch zuhause online ausfüllen könnten, „zwingend dazu“. Patienten mit weniger stark ausgeprägter Furcht hilft schließlich oft schon: ein Arzt, der sich Zeit nimmt, der verständlich und ausführlich erklärt, was zu tun ist, und wie er es tun will; in dessen Praxis die Wände vielleicht grün oder blau sind, und nicht weiß; wo Lavendel- oder Bergamotte-Duft den typischen „Zahnarzt-Geruch“ (oft ein Angst-Auslöser) überlagert; in dessen Wartezimmer MP3-Player ausliegen oder die Patienten ermuntert werden, ihre eigene Musik mitzubringen. „Auch Videospiele an der Decke über dem Behandlungsstuhl, Lachgas und Entspannungstabletten können sinnvoll sein“, erläutert Jöhren. Und er verspricht jedem: „Sie werden keinen Schmerz verspüren, es gibt sehr gute Lokalanästhetika!“
„Vollnarkose für jeden Angstpatienten ist keine Lösung“
An zwei Tagen in der Woche wird in der Bochumer Klinik auch unter Vollnarkose operiert. Für jenes Viertel der Phobiker etwa, bei denen die Psychotherapie nicht wirke, bliebe kaum eine andere Alternative, erläutert Jöhren. Gleich jeden Patienten komplett zu sedieren, damit er nichts spürt, wäre indes keine Lösung: „Das wäre, wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, birgt immer ein Restrisiko und dauert viel länger.“ Vor allem aber: wäre das Problem damit ja nicht behoben. „Schöner“, sagt Jöhren, „ist es doch, jemanden zu finden, der einem die Angst komplett nimmt und es möglich macht, dass man künftig regelmäßig und ohne Angst zum Zahnarzt geht.“
Ärzte brauchen „psychosomatische Grundkompetenz“
Lange sei das Thema „Zahnbehandlungsangst“ im Studium „stiefmütterlich“ behandelt worden, räumt der Experte ein. Inzwischen hätten aber immer mehr Unis verstanden, dass es dazu gehört. Angehende Zahnmediziner können heute eine Zusatzprüfung im Fach „Psychosomatische Grundkompetenz“ ablegen, auch die Approbationsordnung sei geändert worden. „Es hat sich viel getan“, sagt Jöhren. „Aber es sollte doch auch selbstverständlich sein, dass ein Zahnarzt alle seine Patienten ordentlich behandelt.“
Ein „Geschäftsmodell“ sei es darum aber nicht: Die Kassen zahlten zwar die Psychotherapie – aber für die zahnärztliche Behandlung des Phobikers nicht mehr als für die anderer Patienten – obwohl der zeitliche Aufwand wenigstens zu Beginn doppelt so groß sei.
>>> INFO: Symptome
Die Symptome einer Zahnarztbehandlungsangst reichen von erhöhtem Puls bei Betreten der Praxis über Schweißausbrüche im Wartezimmer und Hyperventilation auf dem Behandlungsstuhl bis hin zur ausgewachsenen Panikattacke beim Erscheinen des Arztes. Dental-Phobiker leiden zudem nicht selten auch unter anderen Phobien.
Was die Angstgefühle gefühlt auslöst, ist verschieden: Die eine fürchtet sich konkret vor der Spritze, ein anderer hasst „irgendwie“ das Gefühl, dem Arzt mit offenem Mund auf dem Rücken liegend hilflos ausgeliefert zu sein. Nicht alle Betroffenen können das überhaupt konkret benennen. Selbst eine simple Zahnreinigung ist für manchen schon unmöglich.
>>> INFO: Prävention
Eltern können viel tun, damit sich bei ihren Kindern Angst vor der Zahnarztbehandlung erst gar nicht entwickelt: sie frühzeitig zum (eigenen) Kontrolltermin mitnehmen, etwa. Sind Mutter wie Vater selbst Angstpatienten: „Bitten Sie einfach die Großeltern, das Kind mitzunehmen!“, schlägt Jöhren vor.
Absolut kein Verständnis hat der Bochumer Arzt nur für Eltern, die ihm „drei, vier, fünf Jahre alte Kinder“ bringen, denen er die verfaulten Milchzähne ziehen muss – weil sie mit süßen Säften in der Schnabeltasse oder einer Milchflasche ins Bett geschickt werden. „Dafür fehlt mir das Verständnis, da hört meine Empathie auf, diese Kinder werden natürlich zu Phobikern.“