Ruhrgebiet. Von „Gnade“ singen viele Weihnachtslieder. Für 277 Strafgefangene in NRW zeigte der Staatsanwalt sich gnädig: Sie dürfen zum Fest nach Hause.

Gnade kommt von Gott. Ein Gottesgeschenk, sagen Theologen, und vielleicht werden das manche so empfinden, die es bekommen haben: zum Fest die Freiheit. Denn in den Gefängnissen kommt die Gnade einmal im Jahr vom Staatsanwalt. Zu Weihnachten dürfen die Behörden Strafgefangene vorzeitig nach Hause schicken. Auf dem „Gnadenwege“ – und wenn es denn ein Zuhause gibt.

Es war noch nicht einmal Advent, aber es ging alles so schnell. Am 17. November, es war ein Mittwoch, kamen die ersten „Gnadenerweise“ hinter den Mauern an, Häftlinge packten ihre meist wirklich nur sieben Sachen – und weg. „Die Freude war riesig“, erzählt einer, der sie nicht mal mehr verschwinden sah. Dabei ist es natürlich so: Wer in den Genuss kommt dieser sogenannten „Weihnachts-Amnestie“, hat schon vorher eine Ahnung, wie von Weihnachten ja auch.

Erlass gilt nur für einen Entlassungstermin bis 6. Januar

Nordrhein-Westfalens Justizminister hat die Rechtsverordnung in diesem Jahr schon Anfang August unterschrieben, und es steht meist dasselbe darin: Die „Vorzeitige Entlassung für die im Strafvollzug befindlichen Strafgefangenen aus Anlass des Weihnachtsfestes“ ist möglich, wenn jemand nicht länger als zwei Jahre zu sitzen hatte, sich gut geführt hat und vor allem: zwischen dem 18. November und dem 6. Januar sowieso entlassen worden wäre. In stabile Verhältnisse im übrigen, was heißt, dass eine Wohnung und ein gewisses soziales Umfeld vorhanden sein müssen. Man kann als Häftling also mit sowas rechnen, im wahren Wortsinn.

Der Künstler Rudi Bannwarth hat die Weihnachtsgeschichte neu interpretiert – und ins Gefängnis verlegt. In seiner Krippe ist Jesus ein jugendlicher Strafgefangener.
Der Künstler Rudi Bannwarth hat die Weihnachtsgeschichte neu interpretiert – und ins Gefängnis verlegt. In seiner Krippe ist Jesus ein jugendlicher Strafgefangener. © Handout | Andrea Fabry/ JVA Herford

Man kann aber auch hoffen. Was wiederum mit Weihnachten zu tun hat, aber wenig mit den Buchstaben des Gesetzes: In Bochum sitzt nun immer noch ein Mann, der hat seinen Entlassungstermin am 18. Januar. Zwölf Tage zu viel, schon klar, aber er hatte doch gehofft, man würde sie ihm schenken. Die Geschichte ist kompliziert, wie so oft bei Straftätern, aber sein Anwalt hatte guten Mutes einen Antrag gestellt: „Es sollte doch jetzt reichen.“ Der 35-Jährige hat vier Kinder, das jüngste ist gerade ein paar Monate alt, es wurde während seiner Haft geboren. Die Familie wohnt in einer neuen Wohnung, sie ist vollzählig erschienen zum Haftprüfungstermin; „sie hatten alle Hoffnungen“, sagt der Essener Verteidiger Volker Schröder. Die Justiz hat dem Mandanten die nicht mal zwei Wochen nicht geschenkt. „Auch Verbrecher können heulen.“

Zahl der vorzeitig Entlassenen sinkt seit Jahren, auch wegen Corona

Andere hatten mehr Glück, sie sind jetzt schon zuhause. Mindestens 790 sind es in diesem Jahr bundesweit, 277 davon in NRW, und die Zahl könnte noch wachsen. Traditionell stehen in Nordrhein-Westfalen die meisten Entlassungen an. Früher waren es mehr, 522 vor zwei Jahren. Aber seit das Corona-Virus grassiert, werden die Haftanstalten weniger stark belegt. Bochum entließ diesmal acht Häftlinge, 2019 waren es noch 23, Essen nur eine niedrige zweistellige Zahl. Dabei erinnern sie sich in der JVA noch an Jahre, „da war es auf einmal fast halbleer hier“.

Die Staatsanwaltschaften sind zurückhaltender geworden, ohnehin geht es den Justizministern auch gar nicht „nur“ darum, den Menschen ein schönes Weihnachtsfest mit ihrer Familie zu ermöglich. Der Hintergedanke ist auch, dass sie, wenn sie ohnehin um den Jahreswechsel entlassen werden, noch genug Zeit haben, Dinge zu regeln, Behördengänge zu erledigen, eine Wohnung zu suchen, eine Therapie einzustielen. Und um das Justizpersonal zu entlasten: Auch das möchte gern Weihnachten feiern. Je weniger Häftlinge, desto weniger eng der Dienstplan. Baden-Württemberg hat in diesem Advent 184 JVA-Insassen in die Freiheit geschickt, Rheinland-Pfalz 80, viele Bundesländer zählen nur im niedrigen zweistelligen Bereich. Im Saarland, teilte das dortige Justizministerium mit, hätten die Voraussetzungen für Begnadigungen in diesem Jahr bei keinem Gefangenen vorgelegen.

Ist das gerecht? Häftlinge, die zu Ostern freikommen, dürfen nicht eher gehen

Essens katholischer Gefängnisseelsorger Klaus Schütz (l.) und sein evangelischer Kollege Michael Lucka.
Essens katholischer Gefängnisseelsorger Klaus Schütz (l.) und sein evangelischer Kollege Michael Lucka. © Funke Foto Services | Lars Heidrich

Und Bayern macht nie mit. Eine Weihnachts-Amnestie, so die Begründung aus dem Freistaat, würde manchen Gefangenen nur einen ungerechten Vorteil verschaffen. Denn was ist mit denen, deren Haftzeit zu einer anderen Jahreszeit endet, etwa vor Ostern oder Pfingsten? Pech gehabt, sagt der Essener Gefängnis-Seelsorger Klaus Schütz ein bisschen bitter: „Die Amnestie hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.“ Mit „Gnade“ allerdings auch nicht, da ist sich der Priester mit seinem evangelischen Kollegen Michael Lucka einig. Beide hadern ein wenig mit dem Justiz-Begriff des „Gnadenerweises“. Gnade sei theologisch gesehen göttlich, unverdient, der Mensch müsse nichts dafür tun – also sich etwa für eine vorzeitige Entlassung nicht anständig benehmen.

Und dann gibt es ja auch jene Häftlinge, die eine vorzeitige Entlassung gar nicht als Gnade empfinden. Weil zuhause niemand auf sie wartet. Weil es dort keinen Weihnachtsbaum gibt, unter dem sie feiern könnten, und auch sonst nichts, was die Freiheit erstrebenswert macht. Ausgerechnet zu Weihnachten, sagt Rechtsanwalt Schröder, und auch zum Jahreswechsel: „Da fühlt man sich besonders einsam.“ Die das Jahresende als dunkle, depressive Zeit empfinden, die gar nicht mehr wissen, wie sie einen Tag organisieren sollen, lehnen das freundliche Angebot der Staatsanwaltschaft dankend ab. „Es gibt Menschen“, sagt Gefängnis-Pfarrer Schütz, „die finden hier auch Heimat.“

Christliche Werte hinter Gefängnismauern: Vergebung, Buße, Barmherzigkeit

Das aber ist nicht der Sinn des Strafvollzugs. Nicht nur die Seelsorger arbeiten daran, die „Systeme“, die draußen noch vorhanden sind, zu stärken. Damit es noch einen Anreiz gibt rauszukommen. „Wir sehen“, sagen die Pfarrer, „erstmal den Menschen, vor dem Mörder, Vergewaltiger oder Dieb.“ Sie fragen, wie einer geworden ist, was er ist. In vielen Gesprächen geht es um Fragen von Schuld und Sühne. „Es ist nicht so, dass die Menschen hier kein Gewissen haben.“ Vergebung, Buße und Barmherzigkeit, sagt Michael Lucka, „sind christliche Werte, das wird hier gelebt“.

Nicht jeder darf gehen, mancher will das auch gar nicht. Viele Häftlinge verbringen Weihnachten hinter Gittern.
Nicht jeder darf gehen, mancher will das auch gar nicht. Viele Häftlinge verbringen Weihnachten hinter Gittern. © WAZ FotoPool | SCHWERTE, Manuela

Natürlich werden sie auch Weihnachten feiern mit den Häftlingen, mit denen, die bleiben müssen. Es gibt Gottesdienste, bunt besucht „wie in den urchristlichen Gemeinden“, es gibt Vater-Kind-Weihnachtsfeiern. Und sie versuchen, den Menschen wenigstens eine kleinen Wunsch zu erfüllen: einen Anruf bei ihrer Familie. Auch Jesus, sagen die Seelsorger, habe sich denen zugewandt, die am Rand stehen. Viele Häftlinge fänden sich in der Weihnachtsgeschichte wieder: Da kommt Gott „zu den armen Schluckern“, zu denen, die nicht damit rechnen. Und die ersten an der Krippe sind die Hirten: schmutzige, von der damaligen Gesellschaft verachtete „Outlaws“. „Die Weihnachtsgeschichte ist ihre Geschichte.“

Wie man die Sache mit dem Gnadenerweis also auch immer betrachtet, ob nun im Gefängnis oder frisch wieder draußen – aus Seelsorger-Sicht ist es so: „Weihnachten ist der Beweis, dass Gott gnädig ist mit den Menschen.“