Ruhrgebiet. In einer gemeinsamen Aktion haben 18 Menschen aus dem Ruhrgebiet historische Vorgänge ihrer Heimat erforscht: Geschehen, das bald vergessen wäre.

Der Kampf um das Heusnerviertel ist heute nahezu vergessen: Hausbesetzer hatten dort in den 1980er-Jahren billigen Wohnraum gegen den Bau einer Autobahn verteidigen wollen. Protest, Tumulte, Vermummte, Großdemonstrationen, Polizeieinsätze, Räumungen - es war einer der größten derartigen Konflikte in Deutschland. Die letzten der 40 alten Bochumer Mietshäuser fielen 1986. Wer heute die Südumfahrung nimmt, die A 448, der fährt über das abgerissene Heusnerviertel.

Der Hobby-Historiker Johannes Habich hat die ganze Geschichte jetzt einmal als Buch aufgeschrieben und dem Vergessen fast im letzten Moment entrissen. Er steht da in einer Reihe mit 17 gleichgesinnten Frauen und Männern im Ruhrgebiet, die wenig bekannte Aspekte der Geschichte ihrer Stadt erforscht haben. „Projekt Stadtteilhistoriker“ heißt das Unternehmen.

In Essen-Werden hat eine kleinere Villa Hügel gestanden

Projektkoordinator Dietmar Bleidick hat die Stadtteilhistoriker beraten.
Projektkoordinator Dietmar Bleidick hat die Stadtteilhistoriker beraten. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

Verschiedene Stiftungen aus dem Ruhrgebiet haben es angestoßen und finanziert, professionelle Historiker begleitet. „Die Stadtteilhistoriker leisten einen wichtigen Beitrag zum historischen Verständnis der Region Ruhrgebiet“, sagt der Projektkoordinator und Experte Dietmar Bleidick. Es gehe darum, einen „Schatz an historischem Wissen für die breite Stadtgesellschaft zu heben“.

Von der Villa Franzenshöhe beispielsweise. Sie kennen die Villa Franzenshöhe nicht? Da, Sie sehen schon. Die Villa stand in Essen-Werden, eine nicht viel kleinere Villa Hügel, und gehörte einem deutschen Bankier jüdischen Glaubens. Man feierte große Feste, wertvolle Gemälde hingen hier, die „Reichsvereinigung Deutscher Juden“ wurde hier gegründet. Familie Hirschland konnte 1938 ihr Leben durch Ausreise retten. Die Villa ist verloren.

Noch in den 1880er-Jahren kamen auf einen toten Erwachsenen vier tote Kinder

Und so haben die 18 Beteiligten zwischen Dortmund und Dinslaken in 18 Monaten (plus einer pandemiebedingten Verlängerung) Themen querbeet beackert. „Hoesch-Arbeiter und ihr Einsatz für Demokratie.“ „Die Siegfried-Figur auf dem Ehrenfriedhof Kaiserberg.“ „Vergessene Wasserwege um das Castell Dinslaken.“ „Leben in Ruhrort 1875 bis 1915“. Worin man en passant erfährt, dass noch in den 1880er-Jahren auf den Eintrag eines Erwachsenen im Sterberegister - vier tote Kinder kamen.

Die 18 haben gelesen, gefragt, gefilmt und fotografiert, sind in Archive und Büchereien gegangen und ins Internet natürlich. Und hatten ein jeder ein Stipendium von 1500 Euro. Heraus kamen Bücher und Broschüren, Blogs, Interviews und Vorträge. Man findet alle Beteiligten und ihre Projekte unter www.gls-treuhand.de/stadtteilhistoriker, die Forschungsergebnisse selbst werden dort aber nur kurz angerissen.

Stadtgeschichte beschränkt sich noch zu häufig auf den Zentralort

Auch mit der Emscher (rechts) hat sich eine Teilnehmerin befasst. Links der Rhein-Herne-Kanal, dazwischen die sogenannte Emscherinsel.
Auch mit der Emscher (rechts) hat sich eine Teilnehmerin befasst. Links der Rhein-Herne-Kanal, dazwischen die sogenannte Emscherinsel. © www.blossey.eu | Hans Blossey

„Die historische Stadtteilforschung ist insbesondere für die Ruhrgebietsstädte wichtig“, sagt etwa der Teilnehmer Clemens Kreuzer: Die „reiche stadthistorische Literatur“ beschränke sich oft auf den Zentralort, die zu hunderten eingemeindeten Orte kämen hingegen zu selten zur Geltung.

Das war ja auch ein Sinn des Projektes: Dinge endlich einmal aufzuschreiben, bevor sie vergessen sind -siehe Heusnerviertel. Die professionelle Herangehensweise zeigt sich auch an manchem Detail: So wurde aus dem Vorhaben „Soziale und gesellschaftliche Veränderungen in der Gemeinde Stiepel nach dem Ende des Ersten Weltkriegs“ zuletzt „Zwischen Revolution und Ruhrkampf: Stiepel nach dem Ende des Kaiserreichs.“ Drama statt Soziologie: Das liest man doch auch gleich viel lieber.

Beteiligte denken daran, das Projekt fortzusetzen

Auffälligerweise hat sich niemand der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem Bergbau befasst oder dem Fußball. Allerdings kommen Ruhrgebiets-Klassiker zum Zuge wie die Emscher („Geschichten vom Apfelbach“ einschließlich der doch eher sagenhaften Emscher-Nixe Emrizza Amberhus) oder die Einwanderung („Erfahrungen und Erinnerungen der ersten Generation Migrant*innen in Marxloh“).

Fortsetzung folgt? In Frankfurt läuft ein ähnliches Projekt seit bald 15 Jahren, Stadtteilhistoriker wie Johannes Habich - der Mann mit dem Heusnerviertel - würden es sich wünschen. Und Benjamin Volff hat in seiner Arbeit „die deutsch-französischen Beziehungen in Recklinghausen während der Ruhrbesetzung 1923“ erforscht. Nun macht er einfach weiter - mit demselben Thema nebenan in Herne.