Bochum/Recklinghausen. Im Missbrauchsprozess um Marvin ist das Urteil gefallen. Ein 46-Jähriger aus Recklinghausen muss neun Jahre in Haft. Und in Sicherungsverwahrung.
Marvin ist erleichtert. Noch aus dem Saal schickt ihm seine Anwältin die gute Nachricht: Der Mann, der den Jungen aus Duisburg zweieinhalb Jahre in seiner Recklinghäuser Wohnung versteckt gehalten und ihn wahrscheinlich in jeder einzelnen Nacht missbraucht hat, muss für neun Jahre in Haft. Zusätzlich verhängte das Landgericht Bochum am Donnerstag die anschließende Sicherungsverwahrung. Das heißt, wie Marvins Mutter sagt: „Der kommt nicht mehr raus.“ Ihr Sohn hatte sich genau das gewünscht: „Damit er keinem mehr etwas antun kann.“
Nie wieder Kontakte mit Jungen anbahnen, nie wieder filmen, wie er ihnen sexuelle Gewalt antut, nie wieder diese Videos mit anderen Männern teilen. Keine „Knaben“ mit Zigaretten und 20 Euro für sexuelle Handlungen bezahlen, sich an schlafenden Jugendlichen befriedigen, wie er es mit Marvin getan hat. Hunderte Male, da ist sich die 8. Strafkammer „sehr sicher“, hat der heute 46-Jährige den anfangs 13-Jährigen missbraucht, nahezu täglich, trotzdem gehen die Richter großzügig „nur“ von der Hälfte der rund 1000 Tage aus.
Polizisten fanden verwahrlosten Teenager 2019 in einem Schrank
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Verurteilt wird Lars H. zu zwei Einzelstrafen von vier und fünf Jahren: Das will das Gesetz so, weil er mitten im „Tatzeitraum“ zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden ist – wegen Kinderpornografie. Da war Marvin längst bei ihm, man müsse sich das so vorstellen, sagt der Vorsitzende Stefan Culemann: „Morgens das Urteil, abends geht es in der Wohnung weiter.“ Auch am 20. Dezember 2019 suchte die Polizei bei ihm einmal mehr nach pornografischem Material: und fand Marvin im Kleiderschrank.
Verwahrlost sei er da gewesen, erzählte eine Polizistin im Prozess, genau so wie die Wohnung des Mannes, der nie wirklich gearbeitet hat, nachdem er seine praktische Malerprüfung nicht geschafft hatte. Vermüllt, ungepflegt, nicht geputzt, so ist es wohl gewesen in Recklinghausen, wo die Tage, so hat es Marvin später erzählt aus „Cola, Pennen, Rauchen, Weinbrand“ bestanden. Eine Flasche trank der Angeklagte an fast jedem Abend, manchmal auch Whisky, und immer nachts um zwei vergriff er sich an seinem „Gast“.
Aus dem Kinderheim weggelaufen aus Angst vor der Psychiatrie
Den hatte er im 2017 kennengelernt, in einschlägigen Chats, in die Marvin „aus Spaß“ geraten war. Der 13-Jährige war nach dem frühen Tod seines Vaters etwas auf die schiefe Bahn geraten, galt als depressiv, gewaltbereit, unkontrolliert aggressiv. Keine Schule nahm ihn mehr auf, er wurde zwischen Psychiatrien und Kinderheimen hin- und hergeschickt, landete nach einem Messerangriff auf seine Mutter in einer Jugendhilfeeinrichtung in Oer-Erkenschwick. Das war kurz, bevor er Lars H. traf.
Er bot dem heimwehkranken Jungen nach Darstellung des Gerichts Geld und Tabak, gleich beim ersten Treffen in einem Waldstück kam es zum Oralverkehr. Nur wenige Tage später zog Marvin in Recklinghausen ein. Und „konnte ja nicht mehr weg“, wie seine Mutter im Gericht sagt. Er war jetzt ein „Ausreißer“, formuliert auch Richter Culemann, ein Kind, das weggelaufen war aus panischer Angst vor der „Geschlossenen“. Dem Angeklagten sei das bewusst gewesen.
Mutter konnte die Schilderungen nicht mit anhören
Womit sich der Erwachsene „sehr eigennützig“ Kost und Logis vergelten ließ, darüber spricht der Vorsitzende am Donnerstag nicht viel. Marvin selbst hatte in nicht öffentlicher Sitzung erzählen dürfen, noch viel mehr hörten und sahen die Richter in Videos und Sprachnachrichten vom Handy des Angeklagten. Wenig wird zitiert, es ist viel von „geil“ die Rede und vom „Tauschen der Kleinen“ und von Nächten, die „super“ waren. „Unendlich viel weiteres Material“ sei gefunden worden, „wir wissen deutlich mehr als das, was wir hier sagen“. Marvins Mutter, die eigentlich vorhatte, an jedem der fast 50 Prozesstage zuzuhören, hatte deshalb früh aufgegeben: „Ich konnte das nicht mehr.“
Auch am 42. Tag war sie nicht da, als Lars H. nach „langem, langem Schweigen“ seinen Anwalt eine Erklärung verlesen ließ. Botschaft: Es sei Marvin gewesen, von dem alles ausging, der Junge trage die Verantwortung. Einen Gefallen hat sich der Angeklagte mit seiner Sicht auf die Dinge nicht getan: Seine Darstellung sei „mehr als eine Beschönigung“. Damit, Marvins Opferrolle zu bestreiten, stelle der 46-Jährige „die Dinge auf den Kopf“, das „Geständnis“ sei ein Lippenbekenntnis. „Wir glauben Marvin.“
An der Sicherungsverwahrung „führt kein Weg vorbei“
Lars H. in seinem stets gleichen Schlabber-T-Shirt hört das alles mit gesenktem Kopf, eine Hand immerzu an seiner OP-Maske. Zwischendurch zieht er sie bis fast über seine Augen. Weint er? Es ist nicht gut zu erkennen. Was genau zwischen ihm und vielleicht auch noch mit anderen Jungen passiert ist, können die Richter nur vermuten. „Da ist viel Luft für weitere Ungewissheiten.“ Anhaltspunkte für weitere Taten gibt es, Culemann gibt sich „sicher: Hätte er Gelegenheit gehabt, hätte er schon vorher Taten verübt“. Die „ausgeprägten pädosexuellen Interessen“ seien offensichtlich, an einer Sicherungsverwahrung führe deshalb „kein Weg vorbei“.
Befriedigend zumindest, sagt Marvins Mutter, das Urteil sei „ein Abschluss für eine lange, harte Zeit“. Dasselbe sagt auch ihre Rechtsanwältin Marie Lingnau, die das Opfer als Nebenkläger vertritt. Sie hatte, ebenso wie die Staatsanwaltschaft, eine deutlich höhere Strafe gefordert. Marvin, sagen beide, müsse sich jetzt mit der „Tat“ auseinandersetzen. Der inzwischen 17-Jährige habe sich gut entwickelt: Er macht seinen Schulabschluss nach und möchte danach IT-Techniker werden. „Ich bin sehr stolz auf ihn“, sagt Lingnau. Er lebt wieder bei seiner Mutter, die darüber nach vier langen Jahren sichtlich glücklich ist: „Er wollte nach Hause.“
>>INFO: SCHARFE KRITIK AN PROZESSVERZÖGERUNGEN
Die 8. Strafkammer, die als Jugendschutzkammer tagte, warf vor allem der Verteidigung vor, den Richtern „unsere Arbeit schwer gemacht“ zu haben. Unter anderem mit „abseitigen Anträgen zur Unzeit“ – allein im Januar waren 30 neue Beweisanträge gestellt worden – hätten die Rechtsanwälte versucht, den Prozess zum Platzen zu bringen.
Aber auch die Nebenklage habe das „Spiel“ mitgemacht: Rechtsanwältin Marie Lingnau hatte monatelang darum gekämpft, ihren Mandanten für seine Aussage aus einem Nebenraum zuzuschalten, also nicht seinem Peiniger gegenüberzustellen. Sie betonte am Donnerstag, sie habe Marvin schützen müssen.
Ohnehin hatte sich die Verhandlung, die schon im Juni 2020 begonnen hatte, mehrfach verzögert: wegen Corona, der Schwangerschaft einer Richterin und der Krankheit eines Schöffen.