Mülheim an der Ruhr. Seit einem Sturz braucht Gisela Weber Hilfe im Alltag. Eine Pflegekraft aus Polen wohnt seither mit im Haus. Wie sie das Zusammenleben meistern.
Marta ist ihr Auge und Ohr. „Ich bin sehbehindert“, sagt Gisela Weber, während sie auf dem beigefarbenen Sofa einen Platz näher rückt. Denn auch das Hören fällt der über 90-Jährigen schwer. Ein Sturz – genauer gesagt, zwei innerhalb von 14 Tagen – brachte ihren Sohn vor anderthalb Jahren zu dem Schluss: „Es geht nicht mehr.“ Doch ein Pflegeheim kommt für die Frau mit den kurzen dunklen Haaren nicht in Frage. Seit 50 Jahren lebe sie in dem Haus, „hier kenne ich mich aus“, sagt Weber. Sie weiß, wo die Gläser im Schrank stehen und Stolperfallen lauern. „In einer neuen Umgebung würde es mir schwerfallen, mich zu orientieren.“
Sohn Ulrich Weber und seine beiden Schwestern haben Verständnis. Sie engagieren einen Pflegedienst, lassen das Mittagessen liefern. Doch schnell sei klar gewesen, dass das keine Dauerlösung ist. Verspätungen, Hektik und viel zu unpersönlich – „Es war mehr oder minder eine Katastrophe“, sagt auch Gisela Weber.
Zum zweiten Mal ist Marta nun da. Die 36-Jährige, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, lebt in Polen und arbeitet als Pflegekraft in Deutschland. Über eine Agentur kam sie zu Familie Weber nach Mülheim. Sie kümmert sich um das Frühstück, macht die Betten und hilft Gisela Weber beim Anziehen. Denn seitdem irgendjemand in ihrem Kleiderschrank rumgeräumt hat, weiß die dreifache Uroma nicht mehr so recht, wo die Hosen liegen, die gut sitzen. „Sie schaut auch, dass die Farben zusammenpassen“, erzählt Weber, „und sagt mir, wie das Wetter ist; ob ich einen dicken oder dünnen Pullover anziehen soll“.
24-Stunden-Pflege: „Das ist schon ein Eingriff in die Intimsphäre“
Eine gewisse Skepsis sei am Anfang schon dagewesen, gibt Ulrich Weber zu. „Da kommt jemand Fremdes in dein Haus und wühlt in deinen Sachen“, so der 59-Jährige. „Das ist schon ein Eingriff in die Intimsphäre.“ Nur anhand von Fotos und einigen wenigen Informationen, zusammengefasst in Steckbriefen, mussten die Geschwister entscheiden, welche der drei vorgeschlagenen Frauen die neue Mitbewohnerin ihrer Mutter werden soll. Durch ihren Sturz habe Gisela Weber die erste Phase gar nicht richtig wahrgenommen. „Ich war wie weggetreten“, erzählt sie. „Vielleicht“, sagt Ulrich Weber, „war das gar nicht schlecht“.
Vor allem während des ersten Lockdowns, als niemand Angehörige im Pflegeheim besuchen durfte, waren sie froh, auf den Wunsch ihrer Mutter gehört zu haben. Doch so zufrieden die Familie mit Marta auch ist, mit anderen Betreuungskräften habe es in der Vergangenheit auch Probleme gegeben. „Man hat ja schon seine Ansprüche“, sagt Ulrich Weber. Wenn jemand es dann mit der Hygiene nicht so genau nehme, den Lappen für das Bad auch in der Küche benutze … nun ja, jeder sehe das eben anders.
Das größte Problem sei jedoch die Sprache. „Wenn man sie fragt, ob sie alles verstanden haben, sagen sie meistens ‚Ja!‘“, erzählt Gisela Weber – selbst wenn die Pflegerinnen in Wahrheit kein Wort verstanden hätten. Aufgrund ihrer Sehschwäche könne sie selbst keine Fremdsprache mehr lernen. „Wenn ich noch jünger wäre ...“, schwelgt Gisela Weber in Erinnerungen, „… hättest du erst gar keine Pflegekraft aus Polen“, ergänzt ihr Sohn und beide lachen. „Es geht ja vor allem darum, dass jemand da ist, sollte meine Mutter erneut fallen“, sagt Ulrich Weber. Und Marta sei ein Glücksfall: Sie spricht nahezu fließend Deutsch.
Betreuungskraft ist nicht rund um die Uhr im Einsatz
Sie räumt die Küche auf, holt die Post rein und macht Ordnung im Wohnzimmer. Das gründliche Putzen übernimmt zweimal in der Woche eine Reinigungskraft. Meist am Vormittag geht Marta einkaufen, zu Fuß sind es nur ein paar hundert Meter bis zum nächsten Supermarkt. Die Getränke holt Ulrich Weber mit dem Auto. „Die allermeisten haben ja keinen Führerschein“, sagt der 59-Jährige. „Oder wollen hier nicht fahren, das weiß ich natürlich nicht.“
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Rund um die Uhr sei Marta nicht im Einsatz, beteuert Sebastian Nocon, der die Mülheimer Vermittlungsagentur „Lebenshilfe24“ leitet. Und auch Marta erzählt von stundenlangen Radtouren und freien Tagen am Wochenende. Dann schaut meist Ulrich Weber, der nebenan wohnt, bei seiner Mutter vorbei. Am Nachmittag hat Marta zwei Stunden Pause, liest ein Buch, geht spazieren oder telefoniert mit Freunden. Nach dem Abendbrot zieht sich die 36-Jährige in die erste Etage zurück, wo sie ihr Zimmer, ein eigenes Bad und einen Balkon hat. „Dann ist mein Freund von der Arbeit zurück“, sagt sie. Mindestens eine Stunde am Tag wollen sie sich per Video-Chat sehen.
Vermittlungsagentur: „Das BAG-Urteil ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“
Erst vor wenigen Wochen hat das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil entschieden, dass Pflegekräften aus Osteuropa auch in Bereitschaftszeiten der Mindestlohn gezahlt werden muss. Für den Präzedenzfall hatte die Klage einer Frau aus Bulgarien gesorgt, die nach eigenen Angaben eine über 90-Jährige in deren Wohnung 24 Stunden täglich betreut hatte. „Das Urteil“, sagt Sebastian Nocon von der Vermittlungsagentur „Lebenshilfe24“, werde an der derzeitigen Situation aber nicht viel ändern.
So arbeiteten schätzungsweise rund 300.000 Pflegekräfte aus Osteuropa in Deutschland. Ein Großteil von ihnen sei illegal im Land. Bei vielen Pflegekräften aus Polen handle es sich zudem um selbstständige Gewerbetreibende oder um freie Mitarbeiter, die gesetzlich sozialversichert sind. „Das BAG-Urteil ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und spielt für diese Betreuungskräfte sowieso keine Rolle“, sagt Nocon. Zwar unterliege Bereitschaftszeit der Mindestlohnpflicht. Aber nur dann, wenn es sich um Arbeitnehmer handle. „Dieses Entsendemodell wird jedoch eher selten praktiziert.“ Das Bundesarbeitsministerium wisse um die vielen illegal arbeitenden Frauen, die keinen Sozialversicherungsanspruch haben. „Es ist schon lange an der Zeit, dass diese Kräfte, ohne die unser Gesundheitssystem nicht funktionieren würde, auch in das Bewusstsein der Politik treten.“
„Wenn ich nach Hause fahre, habe ich nicht frei“
Am Abend sitzen Gisela Weber und Marta gemeinsam auf dem Sofa, schauen die Tagesschau und diskutieren den Wetterbericht. „Man muss mit Herz dabei sein“, ist Marta überzeugt. Seit zehn Jahren betreut sie pflegebedürftige Menschen in Deutschland, hat zuvor in Polen eine Ausbildung in der Hotelbranche gemacht. „Ich bleibe immer bis zum Ende“, sagt die 36-Jährige – auch wenn ihr der Abschied jedes Mal schwerfalle. „Man hat schließlich zusammengelebt.“
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Doch selbstverständlich vermisst Marta auch ihre Familie. Sechs Wochen bleibt sie in der Regel in Deutschland, bevor sie für die gleiche Zeit nach Polen zurückkehrt. Eine Kollegin übernimmt dann die Betreuung. „Wenn ich nach Hause fahre, habe ich nicht frei“, sagt Marta. „Ich kehre zurück in mein altes Leben.“
Betreuungskräfte „wissen um ihren Wert“
■ Rund 1400 Euro netto im Monat verdienen osteuropäische Pflegekräfte laut der Vermittlungsagentur „Lebenshilfe24“ in Deutschland – Tendenz steigend. Der deutsche Mindestlohn stelle kaum noch einen Anreiz für gute Betreuungskräfte dar, sagt Leiter Sebastian Nocon. „Die allermeisten Betreuungspersonen wissen um ihren Wert.“
■ Die Begriffe „24-Stunden-Pflege“ und „Rund-um-die-Uhr-Betreuung“ werden von vielen Agenturen zur besseren Auffindbarkeit im Internet genutzt. Das eingesetzte Pflegepersonal, so Nocon, arbeite jedoch keinesfalls rund um die Uhr. Die effektive Arbeitszeit betrage in der Regel 40 Wochenstunden.