Erftstadt. Noch immer dürfen keine Menschen in den Erftstadter Ortsteil Blessem. Für zurückgelassene Haustiere wird es langsam eng.
Man kann das Navi schon weit vor dem Ziel ausmachen. Weil man ganz einfach sehen kann, wohin man fahren muss, wenn man nach Blessem möchte, diesen Ortsteil von Erftstadt, in dem das Hochwasser so viel Schaden angerichtet hat, wie in kaum einer anderen Stadt dieses Landes. Man muss nur nach oben schauen und den Hubschraubern folgen.
Sie kreisen über dem völlig verwüsteten Stadtteil. Mindestens einer, meistens zwei oder drei. Von oben sucht die Besatzung. Nach Überlebenden und nach Erkenntnissen, wie sicher es dort ist, wo das Wasser sich zurückgezogen hat.
Auch Anwohner dürfen nicht in Sperrbereich
Bundeswehr hilft nach dem Hochwasser in Essen
Am Boden ist der Stadtteil mittlerweile weiträumig abgeriegelt. Was nicht besonders schwierig ist, weil es nur wenige Zufahrtsstraßen gibt. Dort hat die Polizei Absperrgitter aufgestellt und Flatterband gezogen. Niemand darf passieren, nicht einmal, wenn er in Blessem wohnt. „Lebensgefährlich“ sei es dort, erklärt ein Beamter einem Anwohner, der nach seinem Haus sehen will – selbst für die Einsatzkräfte.
Denn Blessem liegt in einer Schleife der Erft. Und die Erft, sie hat ihr Bett nach dem Starkregen weiträumig verlassen, hat Felder und Wiesen, die Bundesstraße B265 und große Teile des Ortes überflutet. Und auch in eine riesige Kiesgrube ist das Wasser geströmt und hat den Boden so durchgeweicht, dass immer mehr Schotterwerk nachrutschte in das Loch – schließlich auch drei Häuser und ein Teil der historischen Burg. Nun fürchten Experten, dass viele weitere Häuser unterspült und womöglich instabil sind. Nach und nach ist der Ortsteil evakuiert worden.
Manche konnten gar nichts mitnehmen
Wer Glück hatte, konnte noch einmal zurückkehren, um ein paar Habseligkeiten aus seinem Haus zu holen. Harald Spangehl hat dieses Glück nicht gehabt. Nur mit dem, was er am Leib trägt, musste er flüchten vor der Flut. „Zum Glück hatte ich meinen Personalausweis in der Tasche.“ Mehr wird er vorläufig auch nicht bekommen. „Keine Ausnahme“, sagt die Polizei an der Absperrung. „Tut uns leid.“
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Unter den Männern und Frauen der Leverkusener Tierhilfe „Dogman“, die vor drei Tagen aus Leverkusen angereist sind, macht sich unterdessen Verzweiflung breit. Katzen, Vögel, Hasen, Meerschweinchen – gut ein Dutzend Tiere haben sie auf Bitten der Hausbesitzer aus der Gefahrenzone geholt. „Aber jetzt lässt man uns auch nicht mehr hinein“, sagt Mitarbeiter Stefan Backes. „Dabei haben wir noch mindestens 25 Schlüssel für Häuser mit Tieren darin. Die sterben jetzt einen langsamen Tod.“ Auf eigene Verantwortung wollen die Tierretter nach Blessem. „Wir unterschreiben alles, was die Behörden wollen“, sagt Backes. Bisher vergeblich. „Wir bleiben trotzdem.“
Im Nachbarort kehrt die Normalität langsam zurück
Im Nachbarstadtteil Lechenich, keine fünf Minuten von der Sperrzone entfernt, wirkt der Sonntag bei 25 Grad und fast wolkenlosem Himmel fast schon wieder wie ein normaler Sonntag. Wo zwei Tage zuvor noch Hunderte Menschen gemeinsam Hauseingänge und Kellerschächte abdichteten, erinnern nur noch Sandsäcke vor den Schaufenstern und Sperrgut auf dem Bürgersteig an die Flut. Gegen Mittag sind auch Cafés und Biergärten auf dem Marktplatz schon wieder gut besucht. Ohne komisches Gefühl? Marvin (28) zögert mit seiner Antwort. Zwei Tage habe er Freunden geholfen, den überfluteten Keller auszumisten. „Da gönne ich mir heute mal ein Bier.“ Und überhaupt. „Ich vermisse niemanden, muss mir keine Sorgen machen.“
Andere anscheinend schon. 34 Menschen sind bei der „Personenauskunftsstelle“ der Stadt am Sonntag als vermisst gemeldet, sagt ein Sprecher des Rhein-Erft-Kreises. Sie könnten aber angesichts immer noch wackeliger Telefonverbindungen auch einfach nur nicht erreichbar sein.
Offiziell bisher noch keine Todesopfer in Blessem
Todesopfer hat es jedenfalls offiziell bisher noch nicht gegeben in Erftstadt. Hartnäckig hält sich allerdings das Gerücht, dass in der Nacht zu Sonntag eine Kolonne Leichenwagen Richtung Blessem gerollt ist. Marvin winkt ab. „Was hier schon alles erzählt worden ist in den letzten Tagen…“
Im Kreis Ahrweiler dagegen haben die Behörden bisher mindestens 110 Tote bestätigt. 3000 weitere Menschen werden vermisst. Jessica Groß, die in der Region als mobile Krankenpflegerin unterwegs ist, spricht von „Szenen wie aus einem Katastrophenfilm“. „Je mehr die Flut zurückgeht, desto mehr zeigt sich, was sie angerichtet hat.“ Mehrere Patienten sind im Hochwasser gestorben, von anderen ist der Aufenthaltsort unbekannt.
Schwierige Zeiten für Pflegedienste
Die ersten Tage seien „schwierig“ gewesen sagt die Krankenpflegerin. Brücken weg, Straßen unpassierbar, „wir kamen kaum durch“. „Für Wege, die sonst zwei Minuten dauern, habe ich nicht selten eine halbe Stunde gebraucht.“ Aber am Ende hat sie sich durchgekämpft – so wie ihre Kollegen und Kolleginnen. „Mussten wir ja.“ Einen Tag ungewaschen, das übersteht ein Patient schon. Einen Tag ohne Insulinspritze ist dagegen nicht möglich.“
Nur langsam wird es besser. Wo die Pfleger und Pflegerinnen keine Schlüssel haben, kommen sie nur mit Geduld ins Haus, weil mangels Strom die Klingel nicht ertönt oder der Türsummer die Arbeit verweigert. Und in vielen Wohnungen ist es selbst tagsüber stockdunkel. „Die meisten haben elektrische Jalousien. Die gehen jetzt nicht mehr hoch.“ In manchen Fällen vielleicht ein Segen. „Wenn man mit eigenen Augen sieht, was man sonst nur von Bildern kennt, ist das noch einmal eine ganz andere Dimension“, hat Groß festgestellt.
„Zusammenhalt ist gewachsen“
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All die schlimmen Eindrücke, so viele schreckliche Bilder – aber es gibt auch Gutes zu berichten aus der Katastrophe. „Wo immer man hinkommt, mit wem man auch spricht“, sagt die junge Frau, „der Zusammenhalt unter den Menschen ist in diesen Tagen gewachsen.“