Bochum. „Wir werden überrannt von Patienten“, sagen Dermatologen der Bochumer Universitätshautklinik. Und die Erkrankungszahlen nehmen stetig weiter zu.

„Im Winter“, sagt Wolfgang Becker, „bin ich ein anderer Mensch.“ Einfach nicht so gut drauf, wie im Sommer; „Kalkeimer-blass“ statt knacke-braun. Er sei ein „Sonnenkind“, erklärt der 59-Jährige aus Wuppertal: einer, der schon als Kind den Nordsee-Strand liebte; einer, der inzwischen jedes Jahr ein paar Monate im heißen Süden verbringt; der sich gerade wieder auf den Weg macht nach Sardinien; der in Badehose statt Neopren surft; der Sonnenstudios betreibt und lange selbst sein „bester Kunde“ war, wie er erzählt. Aber Wolfgang Becker ist auch blonder Mann, mit blauen Augen, hellen Wimpern und vielen Sommersprossen; einer, der nicht viel Sonne verträgt. Dreimal schon wurde bei ihm in den letzten fünf Jahren Hautkrebs diagnostiziert, darunter ein „amelanotisches“ Melanom auf dem linken Oberschenkel, ein sehr seltener und sehr bösartiger schwarzer Hautkrebs von harmlos heller Farbe; ihm fehlt die Pigmentierung. Becker hatte sehr viel Glück, weiß er heute, dass der Tumor noch nicht gestreut hatte, als die Ärzte ihn entfernten.

Wolfgang Becker lebt auf Sardinien, wenigstens für ein paar Monate im Jahr. „Ich bin ein Sonnenkind“, erzählt der 59-jährige Hautkrebs-Patient aus Wuppertal.
Wolfgang Becker lebt auf Sardinien, wenigstens für ein paar Monate im Jahr. „Ich bin ein Sonnenkind“, erzählt der 59-jährige Hautkrebs-Patient aus Wuppertal. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Prof. Eggert Stockfleth, ärztlicher Direktor der Hautklinik am Katholischen Universitätsklinikum Bochum, blickt dem Sommer weniger freudestrahlend entgegen. Denn es ist der erste nach den langen Corona-Monaten mit Kontaktbeschränkung und Lockdown. Schon jetzt beobachtet der Dermatologe, dass Menschen mit „deutlich fortgeschritteneren Tumoren“ in seine Sprechstunde kommen, weil in der Pandemie Vorsorge-Untersuchungen verpasst wurden. Doch Stockfleth fürchtet zudem: „Die Menschen wollen endlich wieder genießen, was sie so lange vermisst haben. Es zieht sie raus, in den Süden, in die Sonne.“ Und das bei aller Begeisterung: womöglich zu lange und ungeschützt.

335.000 Menschen erkranken jährlich neu, 6000 sterben

300.000 Menschen erkranken bundesweit jährlich neu an hellem Hautkrebs (Aktinischer Keratose, Basalzell- oder Plattenepithelkarziom), 35.000 an schwarzem Hautkrebs (Malignes Melanom). An die 6000 sterben an einer der beiden häufigsten Hautkrebs-Formen. „Die Kliniken werden seit Jahren überrannt“, berichtet Stockfleth, der bis 2014 das Hauttumor-Zentrum der Berliner Charité leitete. 75 Prozent der Patienten, die die Bochumer Hautklinik (93 Betten) stationär aufnimmt, seien inzwischen Hautkrebs-Patienten. Und die Zahlen steigen weiter, betont Stockfleth: „Allein beim hellen Hautkrebs um fünf bis sieben Prozent jährlich, mindestens noch weitere 20 Jahre lang...“. Denn irgendwann ist das UV-Konto des Körpers ausgereizt, rächen sich die Sonnenbäder und vor allem -brände der Vergangenheit. Denn während maligne Melanome relativ rasch bei hoher UV-Belastung entstehen (Stockfleth: „Die holt sich der junge Frankfurter Banker auf seinem Kurztrip auf die Malediven“), ist der helle Hautkrebs Folge einer Kumulation früherer Schäden. 68 Jahre alt sind die Patienten im Durchschnitt bei dieser Erstdiagnose. „Die Haut vergisst nie“, sagen Dermatologen.

Prof. Eggert Stockfleth kam von der Berliner Charité ans Bochumer Universitätsklinikum KKB. Die nicht-invasive Therapie von Hautkrebs ist eines seiner Spezialgebiete.
Prof. Eggert Stockfleth kam von der Berliner Charité ans Bochumer Universitätsklinikum KKB. Die nicht-invasive Therapie von Hautkrebs ist eines seiner Spezialgebiete. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Sein eigenes UV-Konto sei „längst voll“, sagt Stockfleth, 57. Er sei, wie seine gesamte Generation, „groß geworden ohne Lichtschutzfaktor“, ohne ein Gespür für die Gefahr, die Sonne und ultraviolette Strahlung mit sich bringen. Mit den ersten Italien-Urlauben der Wirtschaftswunderzeit wurde Hautkrebs ein Thema in Deutschland.

Bei Diagnose und Therapie hat sich in den vergangenen Jahren viel getan

Besonders gefährdet sind Menschen mit heller Haut, blonden oder roten Haaren. Aber selbst Schwarze kann es treffen. Am häufigsten entsteht Hautkrebs auf den „Sonnenterrassen“ des Körpers: Stirn, Nase, Lippen oder Dekolleté; aber auch da, wo man ihn nicht vermutet: im Augenhintergrund oder Analkanal. Größter Risikofaktor sind Sonnenbrände in der Kindheit und hohe UV-Belastung.

Ganz so gefährlich, so tödlich wie früher ist die Erkrankung allerdings nicht mehr. Noch vor fünf Jahren sei das maligne Melanom der gefährlichste Krebs überhaupt gewesen, sagt Dr. Ose Rademacher, Oberärztin der Bochumer Hautklinik. Inzwischen gebe es sehr gute zielgerichtete Immun-Therapien, selbst für Tumoren, die bereits gestreut hätten, fotodynamische Behandlungen (Bestrahlungen) und sogar Cremes, die helfen. Und als sich die stets trockene, rissige und spröde Unterlippe Wolfgang Beckers als „Cheilitis Actinica“ entpuppte, als eine durch zuviel Sonnenlicht bedingte Entzündung, eine Hautkrebs-Frühform, kurierte das ein Laser. „Willste auch nicht jeden Tag“, erinnert sich Becker. Doch er sei froh gewesen, „dass die Ärzte nicht wieder säbeln mussten.“

Alle zwei Jahre ein Ganzkörper-Screening, das zeigt Wirkung

Dr. Ose Rademacher: Hält nichts von Solarien-Bräune, Farbe gibt’s auch aus der Tube, sagt die Oberärztin der Bochumer Hautklinik.
Dr. Ose Rademacher: Hält nichts von Solarien-Bräune, Farbe gibt’s auch aus der Tube, sagt die Oberärztin der Bochumer Hautklinik. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Auch die Diagnose ist leichter geworden. In der Bochumer Hautklinik etwa steht ein OCT-Gerät zur „Optischen Kohärenz Tomographie“: Es liefert hochauflösende Bilder und erspart dem Patienten bei hellem Hautkrebs in der Regel das „Ausstanzen“ des Verdachtsmals, den chirurgischen Eingriff. Viele Schauspieler, „die sich keine Narben leisten können“, kämen wegen dieses Geräts zu ihm, sagt Stockfleth. Dass heller Hautkrebs vor wenigen Jahren als Berufserkrankung anerkannt wurde, damit für Bauarbeiter Sonnenschutz nun genauso verpflichtend ist wie Helm, habe „viel gebracht“. Und auch das Ganzkörper-Screening, das die Krankenkassen inzwischen alle zwei Jahre bezahlten, zeige Wirkung: „Die mittlere Eindringtiefe bei Melanomen hat abgenommen, das verbessert die Prognose“, erklärt der Dermatologe.

Wolfgang Becker gilt seinen Ärzten als Hochrisikopatient – und Tanorektiker, als süchtig nach Sonne, Bräune und Strahlung. Für die Monate auf Sardinien habe er „trainiert“, erzählt er. Sich auf der Sonnenbank eine „Sonnenschwiele“ zugelegt, die ihn vor Sonnenbrand auf der Mittelmeerinsel schützen soll. Expertin Rademacher entfährt ein „Oh mein Gott“, als sie das hört. Dann erklärt sie, dass guter Sonnenschutz, egal ob Creme, Spray oder Öl, mit hohem Lichtschutzfaktor („viel und oft“), eine gute Sonnenbrille, ein leichter Hut und ein dünnes T-Shirt eher ihre Wahl wären. „Und eine Siesta von elf bis 15 Uhr, natürlich!“ Doch sie weiß, dass Frauen das Thema oft anders sehen als Männer, die gerne verdrängen. „Vielleicht bin ich naiv“, sagt Becker, „aber ich brauche das, ohne Sonne geht nichts.“ Immerhin: Seine drei Kinder hat er stets ermahnt, sich einzucremen.

In der Kindheit das richtige Verhalten in der Sonne lernen

Tatsächlich, sagt Eggert Stockfleth, müsse man schon in jungen Jahren den richtigem Umgang mit der Sonne lernen, damit die Hautkrebs-Zahlen irgendwann doch sinken. Patienten wie Becker ihr Verhalten vorzuwerfen, sie deswegen gar zu beschimpfen, sei kontraproduktiv: „Die verlieren Sie dann nur, die kommen einfach nicht wieder.“ Und er ist froh, dass Becker wenigstens die Nachsorge-Untersuchungen wahrnimmt. „Hautkrebs hat ja einen Riesenvorteil: Man kann ihn sehen.“

Die European Skin Cancer Foundation, die Europäische Hautkrebs-Stiftung, deren Präsident der Bochumer Dermatologe ist, startete allerdings schon vor Jahren zusammen mit den Landeskrebsgesellschaften ein Schulungs- und Präventivprogramm in Kitas. SunPass heißt es. Sicher ist sicher.

>>> INFO: Tanorexie

Ärzte nennen das übertriebene Verlangen, die Haut zu bräunen, Tanorexie. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem englischen Wort „to tan“ (sich bräunen) und dem Fachbegriff für Magersucht: Anorexie. Denn Tanorektiker können wie Magersüchtige ein völlig falsches Selbstbild haben, sich trotz objektiver Bräune als viel zu blass empfinden.

Offiziell als Sucht anerkannt ist die Tanorexie nicht. Schätzungen zufolge sind bundesweit 250.000 Menschen betroffen.