Dortmund. Deutschlands schnellster Zug wird 30 Jahre alt. Tags rast er durch Europa, nachts steigen dem ICE in Dortmunds Werk die Mechaniker aufs Dach.
Auf Gleis 7 steht ein Zug ohne Namen, er ist gerade „tot“. Was, keine Sorge, noch lange nicht sein Ende ist, im Gegenteil: Bahner sagen das, wenn sie einen Zug vom Strom nehmen, und bei diesem hier taten sie es, um ihn zu „behandeln“. Es gibt eine „Diagnose“ auf einem Klemmbrett, danach „kriegt“ der ICE ein paar Untersuchungen und „bekommt“ als Therapie ein paar neue Teile eingebaut, so reden sie in Dortmunds Werk: Hier ist der schnellste Zug von Deutschland für eine Nacht Patient.
Um die 100 Leute arbeiten hier jede Nacht, in mehr als 200 Meter langen Hallen hinter acht Toren im Dortmunder Norden gleich beim Borsigplatz – aber man sieht sie nicht. Sie sind unter dem Zug, sie sind auf seinem Dach, sie streifen drinnen durchs Dunkle. Fehlen Kopfkissen, sind Sitzpolster kaputt, und vor allem: Funktionieren die Toiletten? „Für die Fahrgäste“, sagt Jan „Wolle“ Wollentarski, sei das das Wichtigste. „Kaffee trinken, einen Sitzplatz haben, den Kaffee wieder wegbringen können.“
In Dortmunds Werk nutzt die Conti-Schicht „die Nachtlage aus“
Dieser ICE hier, Typ 3, kriegt eine neue Durchreiche im Bordrestaurant, die alte hat einen Glasschaden, steht in der Diagnose. Er bekommt auch irgendwo ein frisches Modul in seine Klimaanlage, sie liegt schon am Bahnsteig, und vor allem einen in einer Holzkiste verpackten Ersatz für seine Wirbelstrombremse. WSB, schon klar, sie reden in Abkürzungen hier. Wenn sie denn reden. Unter Lüftung und Klimaanlage und Motoren ist das schwierig, oft sind sie heiser nach der Nachtschicht. 21 bis 5.30 Uhr, das muss man wollen.
Aber das muss man auch machen bei der Bahn. „Wir nutzen die Nachtlage aus“, sagt Werkleiter Guido Göldner. 30 Züge fahren jede Nacht ein, zehn rollen in die Halle, LWK wie „Laufwerkskontrolle“, Nachschauen, Wartung, so ein ICE fährt zwischen 1500 und 3000 Kilometern am Tag. Fehlerklasse 1 und 2 sind gefährlich, 3 bis 5 wollen aber auch erledigt sein. Also muss er nachts in die Werkstatt, damit er morgens wieder auf die Strecke kann. Es geht hier um Pünktlichkeit, wie eigentlich immer bei der Bahn, „Freiburg“ fährt ab, „Naumburg“ fährt ein; es ist 23.27 Uhr und darf nur eine Viertelstunde dauern.
Die Werkstatt ist „ein bisschen größer als beim Auto“
Durch die Maske, die derzeit auch hier Pflicht ist, riecht es nach Öl und Werkstatt. „Es ist aber alles ein bisschen größer als beim Auto“, untertreibt Mechatroniker Wolle, 39. So ein ICE ist 200 Meter lang, die Halle deshalb noch ein bisschen länger, nebenan ist Platz auf 340 Metern. Drei Züge, in der Mitte „Kiel“, parken nebeneinander zwischen den vergitterten Lokführerlaufstegen (blau), über den Stempeln der Hebebockanlage (gelb) und unter der fahrbaren Dacharbeitsbühne (rot). Manchmal, wenn sie die Radsätze wechseln, hängt die Bahn sogar in der Luft.
Das H für Haltestelle meint den „Materialbahnhof“: Schleifleisten, verschiedene Öle in Fässern, säckeweise Bremssand, kiloschwere Bremsbeläge, für jedes Rad gleich vier davon, Vorrichtungen zum Batteriewechsel – der Zug hat acht Batterien, jede eine Tonne schwer. Ein Container sammelt „nur Eisenschrott“, ein „Logistikwagen“ hievt Bierkästen und bestückt bei „Naumburg“ schon mal das Zugrestaurant. Aus dem Bordbistro des Ungetauften fließt Wasser, es prasselt auf die Befüllungsanlage, die vielleicht etwas übertrieben hat. 1000 Liter passen rein, die Anlage unten warnt vor „Überflutungsgefahr“, jemand kommt mit einem Wischer. Ein Schild warnt: „Vorsicht! Quetschgefahr für Rangierpersonal“.
Nächster Halt vor Brüssel oder Basel: die Waschanlage
Jan Wollentarski ist dem Zug aufs Dach gestiegen, er kontrolliert den Stromabnehmer, hier hat es sonst 17.000 Volt. Kollegin Kathi Schulze checkt von unten, Taschenlampe in der Hand, Schraubenschlüssel in der Brusttasche, Karabinerhaken an der Stoßkappe. Ob auch nichts kaputt ist am Bauch der Bahn, „nichts abgerissen, keine Risse“? Hinter der regenverdreckten Windschutzscheibe des Führerstands – in die Waschanlage geht es erst später – prüfen fast unsichtbare Gestalten die Scheibwischer, die Signalbeleuchtung, an aus, alles gut. „Zug – spitze“ steht auf einem Poster an der Wand. „Schon beeindruckend“ findet Mechatronikerin Schulze, 32, so einen ICE auch nach zehn Jahren noch. Sie hat bei den Stadtwerken gelernt, deren größter Zug war eine Straßenbahn.
Auf Gleis 9 geht vorn das Licht an, der ICE wird wiederbelebt, durch das offene Tor fährt der Zug hinaus in die Nacht. Nächster Halt: Waschanlage. Danach Basel, Brüssel, Amsterdam. Sicherheit ist dabei das eine, sagt Werksleiter Guido Göldner, aber es gehe auch „um ein tolles Reiseerlebnis“. Mit funktionierender Toilette, laufender Klimanlage und einer Durchreiche ohne Sprung. „Wofür wir hier nicht sorgen, das kann auf der Strecke nicht mehr aufgeholt werden.“
>>INFO: DER ICE WIRD 30 JAHRE ALT
Vor 30 Jahren, am 2. Juni 1991, ging der ICE in den Regelbetrieb. Seither sind mehr als 1,5 Milliarden Fahrgäste in 330 Züge eingestiegen – und sind mittlerweile auf 2700 Schienenkilometern mit zum Teil mehr als 200 Stundenkilometern unterwegs. Bis heute ist die Flotte rund 2,4 Milliarden Kilometer gefahren. Derzeit baut die Bahn ihren Fuhrpark aus, investiert allein sieben Milliarden Euro in neue ICE 3 und 4.
Die Bahn selbst nennt den ICE ihren „Star“: Er gehöre zum Alltag „wie der Karneval im Rheinland und der Hafen zu Hamburg“. Aus einem einzigen Instandhaltungs-Werk sind inzwischen zehn Betriebe geworden, darunter seit 2003 der in Dortmund, wo der ICE 3 und das Modell T gewartet werden.
Mit dem Hochgeschwindigkeitszug ist aber auch das schwerste Eisenbahnunglück in Deutschland verbunden. Am 3. Juni 1998 starben bei Eschede 101 Menschen, als der ICE 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“ entgleiste, 105 wurden zum Teil schwer verletzt. Ursache war der Bruch eines Radreifens nach Materialermüdung.