Neuss. Mit Erfahrungen und Methoden aus der Produktion optimierte Neuss die Abläufe im Impfzentrum des Kreises. Die Taktzahl verkürzte sich drastisch.

136 Menschenleben könnten sie retten, hat Bernd Richter ausgerechnet, „allein im Rhein-Kreis Neuss.“ Denn im dortigen Corona-Impfzentrum optimieren er und Andreas Syska – studierter Nachrichtentechniker der erste, Maschinenbauingenieur der zweite – seit März die Abläufe. Wie sie als CEOs, als Unternehmensmanager, schon viele Abläufe in der industriellen Produktion optimierten.

Der Pieks in den Arm ist der eigentlich „wertschöpfende“ Moment für Richter und Syska.
Der Pieks in den Arm ist der eigentlich „wertschöpfende“ Moment für Richter und Syska. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wer schneller impft, ist eher fertig und das heißt: weniger Covid19-Tote – lautet die These. Fakt ist: Neuss impft schneller. In den vergangenen vier Wochen verkürzten Syska und Richter zusammen mit dem „sensationellen Team des Impfzentrums“ die Taktzeit pro Impfling von vier auf zweieinhalb Minuten. „Es können nun täglich 864 Menschen mehr geimpft werden als noch vor einem Monat“, erklärt Bernd Richter.. So könnte man nicht erst am 20. Mai 2022, sondern schon am 23. Dezember 2021 „komplett durch sein, entsprechend früher wieder öffnen“. Der wirtschaftliche Schaden, auch das hat er berechnet, werde sich deswegen für die Region um 36,7 Millionen Euro reduzieren.

„Und wir können noch besser werden“, versichert Syska, Professor für Produktionsmanagement an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, „noch schneller“. Eine Leistung von 30 Impfungen pro Stunde und Impfkabine sei „ein realistisches Ziel“.

„Wir hatten den Eindruck, wir machen es ganz gut. Aber besser geht immer!“

An diesem Mittag sind die Parkplätze vor dem Neusser Impfzentrum, das in der wenig ansprechenden, aber schön großen Turnhalle des kreiseigenen Berufsbildungszentrums untergebracht ist, rappelvoll. Doch vor dem Eingang: tatsächlich keine Schlange. Und dabei war der Check-In doch lange Zeit „Bottleneck“ der ganzen Veranstaltung, der Ort, wo es eng wurde – zuletzt zu Ostern, als die Ü-60-Spontan-Impflinge auch hier zu Hunderten vor der Tür standen, ohne die nötigen Unterlagen ausgefüllt zu haben (weil die online nicht abrufbar waren). Es drängten und kreuzten sich diejenigen, die ihre Hände desinfizieren wollten mit denen, die Fieber gemessen bekamen und die, deren Termin- und Personendaten am Anmelde-Schalter zu überprüfen waren.

Links die (nun doppelt besetzte) Registrier-, rechts die Impfkabine: Im Idealfall sind beide immer belegt. Früher musste der Impfarzt oft darauf warten, das die Registrierung nebenan abgeschlossen wurde.
Links die (nun doppelt besetzte) Registrier-, rechts die Impfkabine: Im Idealfall sind beide immer belegt. Früher musste der Impfarzt oft darauf warten, das die Registrierung nebenan abgeschlossen wurde. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Syska empfahl, die Situation zu entzerren; verrückte den Desinfektionsmittelspender und die Dame mit dem Thermometer ein wenig; ließ die Papiere der Impflinge schon vor dem Eingang begutachten, notfalls ergänzen – in Weihnachtsmarktbuden, die sie draußen aufgestellt hatten. Und plötzlich fluppte es. „Wir hatten immer den Eindruck, wir machen es ganz gut“, sagt Hans-Jürgen Petrauschke, Landrat des Rhein-Kreises Neuss. „Aber besser geht immer.“ Anders als andere Verantwortliche, die Richter und Syska abblitzen ließen, war er für deren unentgeltliches Hilfsangebot dankbar.

Kleine Veränderungen brachten den Erfolg, „nicht die Bazooka“

Bernd Richter (rechts) und Prof. Andreas Syska wollen kein Geld für ihr Engagement, sie verstehen es als ihren persönlichen Beitrag im Kampf gegen die Pandemie.
Bernd Richter (rechts) und Prof. Andreas Syska wollen kein Geld für ihr Engagement, sie verstehen es als ihren persönlichen Beitrag im Kampf gegen die Pandemie. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Zumal die beiden 62-Jährigen „nicht mit der Bazooka“ anrückten, wie Richter betont. Syska („Er gehört inzwischen zum Inventar“, meint die organisatorische Leiterin des Impfzentrums, Barbara Edelhagen) guckte zunächst nur genau hin, sprach mit Mitarbeitern, nahm Zeiten, fertigte Diagramme an, wertete seine Analysen dann aus. Und nun hängt hier eine Ampel wo sie früher nicht hing (aber besser zu sehen ist); steht dort ein Kopierer, wo keiner war (was Wegezeiten spart). Die Tabletts, in denen die in der Apotheke aufgezogenen Spritzen zur Impfkabine transportiert werden, erhielten Inlays aus dem 3-D-Drucker, so dass nun sieben Einzeldosen sicher hineinpassen (und nicht nur drei, wie anfangs). Die Formulare, die der Impfling vorzeigen muss, bekamen Nummern (damit deutlich wird, in welcher Reihenfolge sie vorzulegen sind) und die Registrierkabinen einen zweiten Arbeitsplatz, „damit man an diesem Nadelöhr ordentlich Tempo machen kann, wenn es richtig voll wird“, erklärt Syska.

Dunja Tit, die heute in Impfstraße 3 zusammen mit Kollege Marcel Dohmen Impflinge registriert, findet: „Es sieht simpel aus, es muss einem nur einfallen“. Ihr sei das wichtig, sagt die KV-Mitarbeiterin: schneller zu werden durch organisatorische Verbesserungen. „Denn die Patienten, gerade die alten Menschen, die hier vor uns sitzen, die wollen wir nicht zur Eile drängen, scheuchen. Für die ist das aufregend genug.“

Zuweiser-Teams gibt es nun auch in den Querwegen zwischen den Impfstraßen

Manche Vorschläge kamen aus dem Team selbst. Anderes, sagt Barbara Edelhagen, „wäre uns vielleicht nicht eingefallen.“ Sie etwa war beeindruckt von Syskas Idee, Zuweiser-Teams auch in die Querwege zwischen den acht Impfstraßen zu schicken. Deren Aufgabe: Erkennen, wo freie Kapazitäten sind und geeignete Wartende dahin umzuleiten. „Tricky“, erklärt Edelhagen, „wenn wir Impfstoffe verschiedener Hersteller gleichzeitig verimpfen“.

Man habe schnell erkannt, sagt sie, dass der Fünf-Minuten-Takt als Vorgabe der KV für die Impfungen „zu defensiv“ geplant war, sei selbst rasch auf vier Minuten runter gewesen. „Und nun schaffen wir drei. Locker, im Schlaf. Und wir können noch mehr“, betont auch sie. Doch hapert’s in den Impfzentren derzeit eigentlich nicht eher an mangelndem Impfstoff als an uneffizienter Organisation? „Natürlich war das zunächst das Problem. Doch der Punkt wird kommen“, sagt Edelhagen, „wenn der Impfstoff nicht mehr der limitierende Faktor ist. Schon bald wird man fragen: Wer kann das alles verimpfen?“

„Wir wissen wie es geht. Wir können helfen. Also helfen wir.“

Barbara Edelhagen, organisatorische Leiterin des Neuser Impfzentrums:  „Drei-Minuten-Takt“, sagt sie stolz, „schaffen wir locker!“
Barbara Edelhagen, organisatorische Leiterin des Neuser Impfzentrums: „Drei-Minuten-Takt“, sagt sie stolz, „schaffen wir locker!“ © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Ende 2020, als die Impfzentren nicht einmal eröffnet waren, haben Richter und Syska mit den Planungen bekommen. Um bereit zu sein, wenn es soweit ist. Um optimierte Abläufe dann schon eingeübt zu haben. Beide sagten sich: „Wir wissen, wie es geht. Wir können helfen. Also helfen wir.“ Sie verstehen das als ihren persönlichen beitrag im Kampf gegen die Pandemie. Jetzt, da es in Neuss so gut läuft, würden sie sich freuen, wenn das Beispiel bundesweit Schule machte. „Wie viele Menschenleben“, sagt Richter, „könnte man dann retten. Rechnen Sie die Zahlen mal hoch...!“

Ihn ärgert sehr, dass „zu viele“ Impfdosen an Hausärzte gehen, er spricht von einer „Deckelung“ der Impfzentren. Barbara Edelhagen sagt nur: „Jede Spritze zählt.“ Doch auch sie freute sich, als ihr Prof. Syska jüngst berichtete, er kenne kein Impfzentrum in Deutschland, das in Relation zur Bevölkerungszahl bessere Werte erreiche als Neuss. Dem Düsseldorfer Zentrum bot sie kürzlich gar an, 1000 Impfdosen zu übernehmen, als sie hörte, dass es dort eng wurde. „War nicht ganz ernst gemeint“, lacht Edelhagen. Doch die Kollegen fanden es nicht lustig.

>>>>> INFO Das Toyota-Produktions-System

Grundlage der Verbesserungsvorschläge, die Syska und Richter machten, ist das bekannte Toyota-Produktions-System; der „wertschöpfende“ Prozess der Piks in den Arm – und alles drumherum „Verschwendung“, die es zu reduzieren gelte.

Darf man Erfahrungen aus der Automobilindustrie auf das Impfen von Menschen übertragen? Man muss sogar, sagen Richter und Syska. „Denn wir aus der Produktion haben den nötigen Sachverstand.“

Allerdings brachte wohl auch eine deutsch-japanische Freundin des Hochschul-Dozenten für dessen Erfolge wenig Begeisterung auf. „Als ich ihr erzählte, dass wir den Takt in Neuss von vier auf 2,5 Minuten reduziert hätten und man irgendwann vielleicht sogar bei einer Minute landen könnte, lachte die nur.“ Und erzählte: Toyota brauche für seine betriebsinternen Corona-Impfungen schon jetzt nur noch: 48 Sekunden.