Ruhrgebiet. 28,4 Millionen OPs wurden im Frühjahr verschoben, wegen Corona. Der Rückstau ist nicht noch abgearbeitet, da ist die zweite Viruswelle da...

28,4 Millionen Eingriffe wurden weltweit verschoben, als die erste Coronawelle im Frühjahr den Globus überrollte. Genau 908.759 sollen es allein in Deutschland gewesen sein. Das geht aus einer Studie der Uni Birmingham hervor. „Alles, was zu verschieben war, haben wir verschoben“, bestätigt Prof. Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Essener Universitätsmedizin (UME). Insgesamt waren das in Essen fast 2000 Eingriffe – „eine gewaltige Zahl“. Doch der Bundesgesundheitsminister hatte die Verschiebung aller elektiven OPs gefordert – um Kapazitäten zu schaffen für Covid-19-Patienten.

Prof. Dr. Christoph Hanefeld, medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Universitätsklinkums Bochum.
Prof. Dr. Christoph Hanefeld, medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Universitätsklinkums Bochum. © Dieter Pfennigwerth

Die Folgen sind unklar, der Rückstau ist noch nicht abgearbeitet, da steckt das Land bereits in der zweiten Pandemie-Welle. Landen jetzt weitere Patienten auf der Warteliste? „Die Situation ist eine ganz andere als im Frühjahr“, entgegnet Prof. Christoph Hanefeld, medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum (KKB). „Wir verschieben derzeit nur noch elektive Operationen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Intensivaufenthalt nach sich ziehen würde“, erklärt er. Solche zur Behandlung einer Skoliose, einer Wirbelsäulen-Fehlbildung, etwa. „Das ist kein lebenserhaltender Eingriff, der könnte noch in drei, vier Monaten erfolgen. Aber die OP ist so groß, dass der Patient im Anschluss ziemlich sicher intensivmedizinisch behandelt werden müsste.“ Nur zehn bis 20 Prozent der Eingriffe seien seit Dezember betroffen. „Im Frühjahr haben wir deutlich breiter runtergefahren – mit den Bildern aus Italien vor Augen.“

„In der Katastrophenmedizin muss man vor die Lage kommen“

Auch in Essen versucht man in diesen Wochen, den Routinebetrieb so weit es geht aufrecht zu erhalten – obwohl nirgendwo in NRW mehr Corona-Patienten behandelt werden als in der UME. Bis zur im Herbst erreichten Zahl von 65 Corona-Patienten im Haus gelang das auch. Als es mehr wurden, die Corona-Kranken zudem mehr Intensivbetten belegten, seien auch wieder mehr elektive OPs abgesagt worden, erklärt Werner, ohne konkrete Zahlen zu nennen.

Inzwischen, da die Infektionszahlen endlich zu sinken beginnen, werde die aktuelle Situation jeden Tag neu diskutiert; um 8.45 Uhr trifft sich allmorgendlich die „Krankenhaus-Einsatzleitung“, anschließend tagen die Untergruppen „Stationäre Belegung“ sowie „Intensiv- und OP-Planung“. Da wird besprochen, wie viele Betten belegt, wie viele frei sind, wer dringend operiert werden muss, wer warten kann. „Wir versuchen, im Echtzeitmodus zu agieren, nicht zu lange im Voraus zu planen, aber auch nicht nur zu reagieren. In der Katastrophenmedizin muss man vor die Lage kommen“, erklärt Werner.

Selbst bei Schlaganfall und Herzinfarkt wurde der Rettungsdienst nicht alarmiert

Für die Patienten sei die Verschiebung eines Eingriffs „belastend und traurig“, räumt der Klinikchef ein: Viele hätten sowieso Ängste, „haben den Arbeitgeber informiert, geklärt, wer das Kind betreut und wer den Hund übernimmt – und dann kommt die Absage…“ Werner denkt aber, man könne vermitteln, dass Sicherheit oberste Priorität habe, und dass „Fehler eher passieren, wenn Ärzte oder Pfleger nur noch am Limit arbeiten“. Die meisten Patienten reagierten gelassen, betont Christoph Hanefeld in Bochum: „Viele sagen von sich aus, dass sie lieber noch warten wollen, wenn sie erfahren, dass sie vermutlich auf der Intensivstation landen.“

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atsächlich geht ein Teil des Rückgangs der Fallzahlen vom Frühjahr auf die Patienten selbst zurück. Mancher scheute aus Angst vor einer Ansteckung den Besuch beim Arzt. Vorsorgetermine wurden nicht wahrgenommen, selbst in Notfällen der Rettungsdienst nicht alarmiert. Prof. Christos Krogias und Dr. Daniel Richter, Neurologen am KKB, veröffentlichten jüngst eine bundesweite Studie dazu: Danach sank die Zahl der Schlaganfall-Behandlungen während der ersten Corona-Welle „drastisch“; nur 31.165 Behandlungen aufgrund eines Hirninfarkts wurden zwischen 16. März und 15. Mai gemeldet, im Vergleichszeitraum 2019 waren es 37.748. Ausgewertet wurden die Daten von 1463 Krankenhäusern

Arztpraxen werden finanzielle Hilfen brauchen

„Krogias, Leiter der Stroke Unit im Bochumer Josef-Hospital, verband die Nachricht mit einem dringenden Appell: Auch in Zeiten einer Pandemie sollte unbedingt auf Warnsignale des Körpers gehört und bei Beschwerden ein Arzt aufgesucht werden. Ansonsten drohten ernsthafte gesundheitliche Risiken. „Time is Brain“, sagen Neurologen, Zeit ist Hirn: Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute. Je früher der Betroffene behandelt wird, desto geringer die bleibenden Schäden.

Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Universitätsmedizin Essen.
Prof. Dr. Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Universitätsmedizin Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Auch in Essen beobachtete man im Frühjahr „eine Häufung zu spät ins Krankenhaus gekommener Patienten mit Schlaganfällen oder Herzinfarkten“, so Werner. Diese Situation habe sich aber inzwischen gebessert. Ob die Menschen verstanden haben, ob Früherkennungs- und Vorsorge-Untersuchungen auch in den Praxen vor Ort inzwischen wieder in vollem Umfang wahrgenommen werden, ist unklar. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) sammeln gerade Daten. „Noch liegen uns keine belastbaren Zahlen vor, aber auch keine Rückmeldungen zu etwaigen negativen Folgen“, sagt Heike Achtermann für die KV Westfalen-Lippe. Fürs vierte Quartal 2020 laufe es „auf einen Rückgang hinaus, den wir aber noch nicht genau beziffern können“, so Dr. Heiko Schmitz, Sprecher der KV Nordrhein. Absehbar sei jedoch, „dass wir erneut finanzielle Hilfe zum Erhalt einzelner Praxen brauchen werden unter Beteiligung der Krankenkassen“.

Die Mutation des Virus ist die derzeit größte Sorge der Kliniken

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„Eine Welt wie vor Corona wird es so schnell nicht wieder geben“, glaubt Jochen Werner. Er nennt die aktuelle Lage „weiter angespannt“, eine, die viel Besonnenheit erfordere. Aktuell habe sich Lage auf den Intensivstationen etwas beruhigt – nach einem Peak Anfang Januar, als das Haus „wirklich randvoll war“, meint Christoph Hanefeld. Aber man bleibe „aufmerksam“: Die große Unbekannte für beide Klinikchefs, das, was derzeit die größten Sorgen bereitet, ist die Mutation des Virus. „Sie kann jedes Krankenhaus lahmlegen, das haben wir in Berlin gesehen“, erläutert Werner.

>>> INFO: Die Zahlen

Das Wissenschaftliche Institut der AOK meldete für März bis Mai 2020 einen „massiven Rückgang der Fallzahlen in der stationären Versorgung“: etwa ein Minus von 44 Prozent bei Arthrose-bedingten Hüftprothesen-Implantationen; eine Abnahme der Hysterektomien (Gebärmutterentfernungen) um 41 Prozent sowie eine von 34 Prozent bei chronisch ischämischen Herzkrankheiten.

Der Bundesverband Deutscher Chirurgen, der neben den in der Klinik tätigen auch die niedergelassenen Chirurgen vertritt, meldete einen Rückgang der Eingriffe um 41 Prozent im April 2020. Am häufigsten seien Kniegelenks-Endoprothesen-Implantationen, Adenotomien (Entfernung der Rachenmandeln) sowie Katarakt-OPs (Grauer Star) verschoben worden.