Essen. In der Corona-Krise müssen Krankenhäuser ganz neu denken, glaubt Prof. Jochen A. Werner, ärztlicher Direktor der Essener Uniklinik.

Fast 700 Covid-19-Patienten werden derzeit in NRW werden auf einer Intensivstation behandelt. Vor einem Monat waren es wenig mehr als 100. Und die Infektionszahlen steigen weiter. Kanzlerin Merkel warnt bereits vor „einer akuten Notlage“, Saarlands Ministerpräsident gar vor dem drohenden „Kollaps“ an deutschen Kliniken. Prof. A. Werner ist ärztlicher Direktor und Vorstanmdsvorsitzender der Universitätsmedizin Essen, dem NRW-weit größten Corona-Zentrum. Ute Schwarzwald sprach mit ihm über die Situation hier im Revier.

Wie dramatisch ist die Lage wirklich?

Werner: Sie ist noch nicht dramatisch, würde ich sagen. Aber unzweifelhaft angespannt. Und sie erfordert extrem viel Aufmerksamkeit, um weiter im Fahrersitz bleiben zu können – was die geordnete Versorgung der Covid-Patienten auf der einen und – nicht minder relevant - die der nicht Covid-Erkrankten auf der anderen Seite angeht.

Wie viele Ihrer Betten sind mit Corona-Patienten belegt?

Stand Mittwochmorgen werden von uns 104 Corona-Patienten betreut, davon 30 auf der Intensivstation. Vor vier Wochen waren es 23 und davon sechs auf der Intensivstation. Man sieht, welche Dynamik diese Lage hat. Aber ich bin sicher, wenn Sie sich mit dem Virus anstecken und stationäre Behandlung benötigen, werden Sie auch in vier Wochen noch adäquat versorgt werden hier. Hier, auf dem Campus, oder in unserer auf Lungenerkrankungen spezialisierten Ruhrlandklinik im Essener Süden.

Im Frühjahr wurden für die erwarteten Massen der Corona-Kranken offensiv Betten frei geräumt und hunderte geplanter Operationen verschoben...

Damals wurde die Schließung von deutlich über 100.000 Betten (bundesweit) verfügt. Damals war das nachvollziehbar, da wussten wir ja noch nicht, was auf uns zu kam. Über den Sommer haben wir eine andere Strategie entwickelt, um durch die zweite Welle zu kommen. Wir versuchen nicht mehr, einfach Betten frei zu halten, denn die sind knapp. Unsere Schwerpunkte Onkologie und Transplantation sollen unbedingt fortgeführt werden. Aber bei mehr als 100 Covid-Patienten können wir auch nicht mehr normal agieren, erste elektive OPs mussten wir schon wieder verschieben. Wir versuchen, den Betroffenen zu helfen, Alternativen zu finden, wenn sie den Eingriff nicht aufschieben möchten.

Sie haben andere Kliniken empfohlen?

Ja, das ist ein extremer Kulturwandel – in meinen Augen aber eine Riesenchance auch für die Zukunft, zur Umstrukturierung des Krankenhaus-Wesens. Nicht jeder muss alles machen, nicht der Konkurrenzgedanke darf an erster Stelle stehen, sondern die bestmögliche medizinische Versorgung der Bevölkerung. In Essen wächst bereits das Bewusstsein: Wir kommen nur zusammen durch die Krise. An Corona kann keiner gewinnen.

Prof. Jochen A. Werner, ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen: Die Lage ist angespannt, aber nicht dramatisch.
Prof. Jochen A. Werner, ärztlicher Direktor des Uniklinikums Essen: Die Lage ist angespannt, aber nicht dramatisch. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Selbst wenn es an Betten nicht fehlen wird, eng wird es auf jeden Fall beim medizinischen Personal. Denn mit den steigenden Fallzahlen werden auch mehr Ärzte und Pflegekräfte erkranken...

In der Tat, das ist eine der wichtigsten Fragen. Den Pflegenotstand gibt es auch bei uns, die Situation ist aber ebenso angespannt, was die Ärzte angeht. 85 Mitarbeiter sind derzeit in Quarantäne – und wir gehen davon aus, dass es noch mehr werden. Wir machen jeden Morgen „Bestandsaufnahme“ und reagieren dynamisch. Viele melden sich freiwillig für den Corona-Dienst, auch Studierende helfen. Ich sage aber bei aller Fokussierung auf die Zahlen auch: Jeder soll sich melden, wenn es zu viel wird.

Im März infizierten sich 15 Patienten und 23 Mitarbeiter bei einem Patienten in Ihrer Strahlenklinik mit dem Virus. Ein Krebskranker starb – und Sie wurden kritisiert, weil sie den Ausbruch erst drei Wochen später publik machten. Haben Sie aus dieser Erfahrung gelernt?

Klar, wir hätten schneller noch umfänglicher informieren können. Wir sind heute auch besser ausgestattet – unter anderem mit Schnelltests, die helfen können bei Ausbrüchen. Ich will nicht ausschließen, dass in zwei Wochen nicht irgendwo doch wieder ein Problem auftritt, aber wir gehen sehr viel besser vorbereitet in diesen Herbst und Winter.

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Die Welle ist noch nicht gebrochen, es wird schlimmer kommen, steht zu befürchten. Wie sehen Ihre Eskalationspläne aus?

Wir wollen nicht mehr nur reagieren, haben nun Richtgrößen definiert für eine bessere Planbarkeit, auch damit die Klinikdirektoren nicht ständig in einer gewissen Grundhektik agieren müssen. Und wir versuchen zu synchronisieren, es gibt einen Eskalationsplan für Normalstationen, da stehen wir gerade bei Stufe 3 von 6, und für den Intensivbereich. Da liegen wir heute bei Stufe 2 von 4.

Als die Kliniken im Frühjahr gefordert waren, gab es dafür noch Geld vom Staat. Seit Oktober nicht mehr...

Nun, Minister Spahn hat gestern öffentlich erklärt, kein Krankenhaus werde wegen Corona finanzielle Not erleiden. Das ist eine erhebliche Erleichterung für die Denkweise der Krankenhäuser, so dass wir wirklich sagen können: „Patient first“, ohne Sorge haben zu müssen, dass wir durch die Situation jetzt finanziell zugrunde gehen.

Immerhin: Schutzausrüstung für Pflegekräfte steht auf der Intensivstation der Esser Uniklinik heute in ausreichender Menge – und Qualität – zur Verfügung. Im Frühjahr wurden auch mal Kittel geliefert, die gleich beim Auspacken zerrissen.
Immerhin: Schutzausrüstung für Pflegekräfte steht auf der Intensivstation der Esser Uniklinik heute in ausreichender Menge – und Qualität – zur Verfügung. Im Frühjahr wurden auch mal Kittel geliefert, die gleich beim Auspacken zerrissen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Im Sommer 2019 hieß es, die Hälfte der deutschen Krankenhäuser müsste geschlossen werden. Dann kam der Virus und alle waren froh, dass die Pläne noch nicht verwirklicht worden waren. Brauchen wir inzwischen spezielle Corona-Zentren?

Man darf nicht vergessen, dass 40 Prozent der deutschen Kliniken überhaupt nicht in die Bekämpfung der Pandemie eingebunden waren, und zehn weitere Prozent so gut wie gar nicht. Und ja, wir brauchen solche Covid-Zentren. Und sie müssen da sein, wo die Expertise ist, wo es Intensivstation, Lungenheilkunde und eine Infektiologie gibt. Es macht überhaupt keinen Sinn, das in der Breite zu verteilen. Zumal Ärzte und Pflege für diese Aufgabe wirklich gut trainiert sein müssen.

Essen ist bereits ein solches Zentrum, bundesweit das drittgrößte nach Augsburg und Berlin.

Wir erleben alle gerade live eine Pandemie-Geschehen mit einer ganz neuen Erkrankung. Und wir als Universitätsmedizin übernehmen Verantwortung als Covid-Zentrum in der Metropolregion, auch weil das ein enormes wissenschaftliches Potenzial hat. Wir müssen allles daran setzen, dass alle verfügbaren Daten ausgewertet werden. Das Allerschlimmste wäre in einer solch neuen Situation, wenn Wissen ungenutzt versickert. . Selten lagen Forschung und Krankenversorgung so nah beieinander.

Im Dezember soll der Lockdown wieder aufgehoben werden. Wo stehen wir dann?

Ich bin total überzeugt davon, dass die exponentielle Zunahme der Infektionszahlen abgeflacht werden kann. Und ich bin froh um jeden Patienten, der keine stationäre Behandlung benötigt. Wenn es gelingt, deren Zahl zu verringern, wäre viel gelungen.