Ruhrgebiet. Selbst junge Menschen können durch einen Schlaganfall verstummen. Wie sie auch mit Hilfe des Aphasiker-Zentrums die Wörter wiederfinden.
Der Schlag, der ein Schicksalsschlag war im wahren Wortsinn, traf Horst im Badezimmer, Jill beim Boxen, Elisa schon im Bauch der Mutter. Der Schlaganfall lähmte ihre Körper, und er hinterließ ein schwarzes Loch in ihren Köpfen, in dem die Wörter verschwanden. Sprachlos mit 18, so wachte Horst auf. Jill war 25 und kann ihre Geschichte fünf Jahre später endlich selbst erzählen. „Aphasiker“ heißen Menschen wie sie, sie sind viele, aber selten so jung. Sie kämpfen um jedes Wort und sich damit zurück ins Leben, das doch noch vor ihnen liegt.
Zur Begrüßung die „Ghettofaust“, Jill kann das schon gut. Horst Alexander zittert. Der ganze große Mann bebt, er hebt den rechten Arm mit dem gesunden an, er biegt die Finger, seine Augen sagen: „Anstrengend.“ Sein Mund sagt nichts. Der heute 23-Jährige tut sich immer noch schwer mit dem Sprechen, meist hilft ihm seine Mutter. Sie verstehen einander, Horst Alexander Böhmer versteht überhaupt wieder.
Hirnblutung nach Aneurysma, „die Prognosen waren sehr schlecht“
Das war anfangs anders, aber niemand hat es gewusst. Die Sprache war einfach weg, sie haben ihm erklärt, was passiert war, aber es drang nicht durch. Passiert war, dass Horst Alexander einfach umgefallen war, er hat seine Mutter das mal aufschreiben lassen: „Ich bin mit meinem Auto nachmittags nach Hause gefahren, wollte mich umziehen und bin bewusstlos geworden.“ Hirnblutung durch ein Aneurysma: In seinem Kopf war ein erweitertes Blutgefäß geplatzt, Horst kam mit dem Rettungshubschrauber in die Essener Uniklinik.
„Die Prognosen waren sehr schlecht“, sagt seine Mutter, fast die komplette linke Hirnhälfte war zerstört. „Es gab nichts zu reparieren.“ Als er aus dem Koma erwachte, wollte er weglaufen, aber nicht aus Angst: Er wusste einfach nicht, dass er nicht mehr laufen kann, und was sie ihm sagten, konnte er nicht mehr verstehen. Horst stand kurz vor dem Abitur, deshalb ist er auch heute immer noch: Schüler.
Mit 30 schon Rentnerin, mit 23 immer noch Schüler
Jill Zwingmann ist Rentnerin. Mit 30. Das vielleicht ist für sie das Schlimmste: „Ich kann nicht mehr als Polizei arbeiten.“ Sie war so gerne Polizistin, diese sportliche junge Frau, die joggte, Karate kämpfte und boxte. Sie war zuhause in Oberhausen, setzte gerade ein paar Hiebe gegen einen Boxsack, „dann weiß ich es nicht mehr“. Auch bei hier war es ein Aneurysma, auch sie lag im Koma, wenn sie davon erzählt, muss sie sich sehr konzentrieren. „Warte“, sagt sie dann, und blickt suchend in sich hinein. Es dauert, bis ein Wort sich in ihrem Kopf zusammensetzt und den Weg zur Zunge findet.
Die ist manchmal noch etwas langsam, aber Eva Böhmer, die Mutter von Horst, sagt: „Sie merkt selbst gar nicht, dass sie Riesenfortschritte macht.“ Aphasiker erklären das so: Sie kennen die Buchstaben, aber aussprechen können sie sie nicht. „Ich hab’ es im Kopf, aber ich komm’ nicht drauf“, sagt Christiane Mais, die Betroffene im Aphasiker-Zentrum NRW betreut. Die gelernte Logopädin, also Sprachtherapeutin, weiß, wie mühsam manche Patienten nach Lauten, nach Wörtern, erst recht ganzen Sätzen suchen, wie lange das oft dauert. Zehn, 20 Jahre bei manchen, „oh nein“, sagt Jill.
Größter Wunsch: wieder sprechen, lesen, schreiben können
Aber sie ist ja schon weit, in diesem Jahr war sie snowboarden, hat an einem Fünf-Kilometer-Lauf teilgenommen. Woran sie sonst noch Spaß hat? „Dass ich noch leben kann. Boah ey.“ Sie sagt das oft: „Boah ey“, weil es so unglaublich ist, was sie schon wieder kann, die Freude ist ihr anzusehen. Was noch fehlt: „Ich möchten gern sprechen, lesen und schreiben können.“
Denn „wenn die Sprache nicht mehr da ist, schließt das vieles aus“, sagt Christiane Mais. Sie hat sich auf die Fahnen geschrieben, für die jungen Leute etwas zu tun, die von Aphasie betroffen sind. Die andere Beratung brauchen als ältere, eine andere Ansprache. „Ihre Lebensperspektive ist eine andere als von denjenigen, die schon mitten im Leben gestanden haben.“ Auf den Arbeitsmarkt sollen sie, und zwar auf den ersten: „In Behindertenwerkstätten sind sie unterfordert.“
„Ohne Sprechen fällt man durchs Raster“
Denn wer seine Sprache verloren hat, sei „nicht im Denken oder in der Intelligenz gestört“. Eva Böhmer drückt es direkter aus: „Die sind nicht geistig behindert“, sie könnten nur nicht kommunizieren. Aber ihr Sohn und die anderen „existierten wie Geister“. „Sie haben viel zu sagen, aber sie können es nicht. Ohne Sprechen fällt man durchs Raster.“
Elisa Rauch aber hat es geschafft. Zehn Monate war sie alt, als die Ärzte endlich den Eltern glaubten: Da stimmte etwas nicht mit der kleinen Hand. Das Kind hielt sie immer in einer Faust, es weinte nicht einmal, als es sich die Finger klemmte in der Spielzeugtruhe. „Aber da war es schon zu spät.“ Der Schlaganfall hatte das Baby schon im Mutterleib getroffen, hinterließ ein Loch in dem kleinen Gehirn, groß wie ein Euro-Stück.
„Erleichtert, dass ich normal in der Welt stehen kann“
Heute sagen die Ärzte, es sei ein Wunder; sie hatten vermutet, dass Elisa, anfangs stark entwicklungsverzögert, einmal gar nichts könne. Elisa sagt: „Ich bin erleichtert, dass ich normal in der Welt stehen kann.“ Sie fährt Auto, sie spricht fast flüssig, kürzlich hat sie ihre Ausbildung als Kauffrau für Büromanagement abgeschlossen. Hilfe braucht sie nur, wenn sie schwere Aktenordner tragen muss. Man könnte sagen, Elisa macht alles mit links – aber das bedeutet nichts Gutes. Sie ist eine „geborene Rechtshänderin“, nur ist sie rechts teilweise gelähmt.
Wie Jill, wie Horst. Aber es hilft, dass sie ihr Schicksal teilen können. Dass sie bei den Aphasikern einen Ort haben, an dem sie sich treffen und motivieren können. „Wenn sie zusammen unterwegs sind“, hat Christiane Mais beobachtet, „laufen sie schneller.“ Gemeinsam haben sie einen Youtube-Kanal eingerichtet, die meiste Arbeit macht Horst, der vorher schon viel am Computer saß: „Das Zocken“, sagt seine Mutter, „war doch nicht so verkehrt.“ Der 23-Jährige macht jetzt Videos über seine Therapien, siebenmal die Woche Ergo-, Physio- und Musiktherapie und Logopädie, dreimal Fitnessstudio. Seine Mutter ist die „Assistentin“, unterlegt Bilder mit Texten.
Mit Musik spricht Horst ganze Sätze
Viele junge Menschen schauen zu, und alle wollen wissen: Wann geht die Hand wieder? Noch „geht“ sie nicht, sie liegt in Horsts Schoß, wenn er steht, muss er sie tragen. Aber er lernt mit der anderen Hand, Klavierspielen zum Beispiel, oder Trommeln. Überhaupt, die Musik: Im Takt kann Horst ganze Sätze sprechen, die er vorher auswendig gelernt hat. Aufschreiben kann er sie noch nicht, lesen auch nicht. Aber wenn er Musik gemacht hat und die Ärzte danach in seinen Kopf gucken, dann sehen sie auf den Bildern Erstaunliches: Dort, wo der Schlag nur Dunkelheit zurückließ, leuchten wieder kleine Lichter.
>>INFO: SCHLAGANFALL-HILFE SEIT 25 JAHREN
Das Aphasiker-Zentrum NRW e.V. (AZN) mit Sitz in Essen besteht in diesem Jahr 25 Jahre. Als Kooperationspartner der Neurologischen Klinik Philippusstift Essen-Borbeck betreut, begleitet und berät das AZN Menschen jeden Alters, die nach einem Schlaganfall, einer Hirnblutung oder -verletzung an einer Aphasie und anderen Handicaps leiden.
Aphasie ist eine zentrale Sprachstörung, die je nach Schweregrad das Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben betrifft.
Wesentliche Aufgaben des AZN sind Beratung und Therapie Betroffener und ihrer Angehörigen aus ganz NRW, aber auch die Ausbildung von ehrenamtlichen Schlaganfall-Helfern oder die Unterstützung der Selbsthilfe.
Die Gruppe junger Betroffener hat sich 2019 zusammengeschlossen. Sie betreiben gemeinsam den Youtube-Kanal „Junge Aphasiker NRW“.
Kontakt: aphasiker-nrw@online.de, Tel. 0201 60 99 422. www.apha-zent-nrw.de