Ruhrgebiet. Auf Wahlhelfer kommt am Sonntag ein beispielloses Auszählen zu. Viele Städte haben deshalb das Zehrgeld erhöht, und eine verlost Reisen.
Man stelle sich vor, es ist Sonntagabend, gegen 20 Uhr, die Stimmen in deinem Wahllokal sind fast ausgezählt – und plötzlich sind 40 CDU-Stimmen weg, verglichen mit der ersten Zählung. Nein, man stellt es sich besser nicht vor, das Stöhnen, die Schreie. Die Verzweiflung ist zu groß, die Aussicht auf ein drittes Zählen finster. Tschüss, Feierabendbier.
Doch bei 800 Wählern verzählt sich doch niemand um 40, also reißt man sich zusammen: Wo sind diese verdammten Stimmen? Wo? Sie finden sich schließlich, vorbildlich gestapelt, auf einem Schrank; der Kollege wollte sie natürlich nicht verstecken, sondern einfach weg haben vom übervollen Zähltisch. Schnell passiert. Und das war nur eine Wahl. Am Sonntag sind es bis zu sechs.
„Hab ich noch nie erlebt“, sagt ein Wahlhelfer, der seit 1980 dabei ist
Eine Wahlnacht wie am nächsten Sonntag hat es wohl noch nicht gegeben, nach allem, was man weiß. Vier Wahlen mindestens, vielerorts fünf, manchmal sogar sechs müssen die Helfer auszählen. Gewählt werden Bürgermeister und Stadträte, Landräte und Kreistage, Bezirksvertretungen, das Ruhrparlament, der Integrationsausschuss. „Hab ich noch nie erlebt“, sagt ein Wahlhelfer, der seit 1980 dabei ist. „Gab’s nicht“, sagt ein anderer, der so lange dabei ist, dass er schon nicht mehr weiß, wie lange. 1972? Könnte sein.
„Wir sind keine Maschinenmenschen“, sagt Walter Euler, ein 73-jähriger Heilpraktiker aus Mülheim und überzeugter Wahlhelfer: Demokratie ist sein Hobby. Eine bis anderthalb Stunden Auszählung pro Wahl, damit rechnet er. 800 abgegebene Stimmen in seinem Wahllokal in Speldorf mal vier Wahlen wären 3200 Wahlzettel, die zweimal zu zählen sind, also 6400 Stimmen - und für jeden Fehler 1600 nochmal. „Die Fehlerquote steigt, je später es wird“, sagt Euler: „Ab 21 Uhr spürt man es deutlich.“ 21 Uhr erreicht man, wenn Europa und Kommunal zusammengelegt sind oder Bürgerentscheide beigemischt.
Manche Ergebnisse ergeben sich erst im Dunkel der Nacht
Und so wissen die Städte im Ruhrgebiet auch nicht, wann sie Ergebnisse vorlegen können. Witten: „Erste Ergebnisse gegen 19 Uhr, verlässliche Tendenzen nicht vor 21 Uhr.“ Bochum: „Ein belastbares Ergebnis der Oberbürgermeister-Wahl gegen 20 Uhr.“ Wohlgemerkt, in kreisfreien Städten sind die OB die ersten, die ausgezählt werden. Der schönste Satz in diesem Zusammenhang kommt jedoch aus der Stadtverwaltung Duisburg: „Die Dauer hängt ab von der Auszählungszeitspanne in den Wahllokalen.“ Es ist, wie es ist.
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In etlichen Städten werden die Integrationsausschüsse erst in den nächsten Tagen gezählt. Aber schon die Ergebnisse der Bezirksvertretungen und des Ruhrparlaments dürften zunächst im Dunkel der Nacht verschwinden. Als Vorteil gilt gemeinhin, dass die Wahlzettel je nach Kategorie unterschiedlich gefärbt sind: OB weiß, Rat gelb undsoweiter, jedenfalls in Herne, und das Ruhrparlament ist überall lila, manche sagen lieber: Flieder.
„Ich werde mir hier wahrscheinlich ein Feldbett aufstellen“
„Ich werde mir hier wahrscheinlich ein Feldbett aufstellen“, sagt - im Spaß - Holger Marquitan aus Herne, der im Wahlbüro der Stadt Bochum arbeitet. Mit anderen Kollegen ist er am Sonntag dazu eingeteilt, Fragen aus Wahllokalen zu beantworten. Tagsüber ist der Klassiker: „Wir haben hier eine Frau Mustermann, die wohnt in der Beispielstraße, wo kann sie wählen?“ Nach 18 Uhr aber wird das hier typisch: „Hilfe. Wir haben eine Stimme mehr ausgezählt als Wähler registriert.“ Dann zählt mal schön nochmal. Nein, irgendwann spät reicht auch ein Vermerk in der Wahlniederschrift.
Nach grober Schätzung 30- bis 40.000 Wahlhelfer sind es am Sonntag allein im Ruhrgebiet. Treffen sich gegen halb 8 morgens, beschildern das Wahllokal, kleben Richtungspfeile, stellen die Tische zurecht und die Urnen auf, teilen sich in zwei Schichten. „Und dann wartet man auf die Bürger“, sagt ein Helfer. Kurz vor 18 Uhr sind dann alle wieder da, um gemeinsam zu zählen.
Angesichts von Corona war es vielerorts schwierig, Wahlhelfer zu finden
Nicht ganz unerwartet, war es im Auge von Corona nicht überall einfach, genug Helfer zu finden. Aber jetzt sind sie da. Angesichts der langen Wahlnacht haben viele Städte ihre Schulungen intensiviert und das Erfrischungsgeld erhöht (es liegt zwischen 45 und 80 Euro). In Mülheim können sie sogar eine Reise und Einkaufsgutscheine gewinnen: „Kein Wahlhelfer kommt wegen zehn Euro Zehrgeld mehr“, sagt Stadtsprecher Volker Wiebels: „Mit der Verlosung haben wir gute Erfahrungen gemacht.“
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Und noch zwei Punkte für Feinschmecker des Wahlrechts, sie sind aber auch potenzielle Fehlerquellen: Zwischen den Wählern zum Stadtrat und zum Integrationsausschuss gibt es Schnittmengen (eingebürgerte Menschen und geborene Doppelstaatler), die jeweils neu registriert werden müssen.
Und: Wer erst kurz vor der Wahl in eine Stadt zieht, kann nicht teilnehmen. Kommt dieser Mensch aber aus einer anderen Revierstadt (also aus dem Gebiet des Regionalverbandes Ruhr), dann darf er auch in der neuen Stadt das Ruhrparlament mitwählen. Viel Spaß bei der Diskussion! Und ein Trost: Wenn es überhaupt systemrelevante Menschen gibt, dann sind es natürlich die Wahlhelfer. Klatschen wird dennoch niemand. Nachts, wenn alles schläft.