Bochum. Das Schauspielhaus Bochum erlaubte der WAZ kurz vor Eröffnung der neuen Saison einen Blick hinter die Kulissen. King Lears Palast steht schon...
„Die Krähenfüße, doch, die waren tatsächlich eine Herausforderung“, gesteht Ralf Oberste-Beulmann, Schuhmachermeister in dritter Generation, nach kurzem Nachdenken. Denn jeder Schuh, den zu fertigen man ihm anträgt, hat’s ja in sich. Der Mann arbeitet schließlich am Theater, im Bochumer Schauspielhaus, um genau zu sein – wie zuvor schon sei Vater. Und was sich im Laden kaufe ließe, damit käme ihm die Kostümbildnerin ja erst gar nicht. Aber versuchen Sie bei Deichmann & Co mal himmelblaue Herren-Ballerinas mit rosafarbenen Puscheln in Größe 44 zu finden. Oder Aquarienschuhe in Leo-Optik, in deren Blockabsätzen Plastikfische schwimmen. Im Schuhfundus des Schauspielhauses findet man neben Unmengen von rotem Fußwerk für gestiefelte Kater all das – und noch viel mehr, ordentlich sortiert. Die Krähenfüße lagern im Regal „Männer/gelb/Größe 44“. Der Schuhmachermeister hat hier gerade erst aufgeräumt, auch „viel weggeworfen“. Nur 4500 Paar blieben übrig. Was Corona nicht alles möglich macht…
Die Garderoben der Frauen – und die der Männer...
Nun, vieles macht das Virus auch unmöglich. Die beliebten Theaterführungen etwa. Der WAZ erlaubte das Schauspielhaus deswegen und sozusagen „für alle“, kurz vor dem Start der neuen Saison einen Blick hinter die Kulissen.
Beatrix Feldmann, Mitarbeiterin im künstlerischen Betriebsbüro und seit 35 (!) Jahren am Bochumer Theater tätig, öffnet dafür sogar die Türen der Künstlergarderoben. Schminktische, Spiegel und Spinde finden sich darin, Waschbecken, Dusche und ein Klappbett mit knallroten Kissen darauf; an der Kleiderstange hängen die aktuellen Kostüme. Jedenfalls bei den fünf Frauen, die sich mit Ann Göbel (König von Frankreich im Saison-Eröffnungsstück King Lear) die Garderobe teilen. Gleich nebenan knautscht sich Stefan Hunsteins grüner Overall, den er bei der Premiere am 10. September als Oswald tragen wird, achtlos über einer Stuhllehne und seinen derben Boots. Männer!
Im Gang hängen noch die alten „Maskenpläne“, eine Stunde vor Beginn der Vorstellung muss der letzte Schauspieler fertig geschminkt sein. Bei nur fünf Maskenbildnerinnen („und das sind schon viele!“) heißt das für die ersten: über drei Stunden, bevor es losgeht, da sein.
Von der Bühne aus wirkt der Zuschauerraum winzig
Von der Bühne aus wirkt der Zuschauerraum überraschend klein. Obwohl dort normalerweise 820 Menschen Platz finden. Wegen Corona wurden zuhauf Stühle ausgebaut und Sitzpolster entfernt. Im Kulissenlager stapeln sie sich nun. Die Premiere des Königsdramas und alle folgenden King Lear Vorstellungen werden nur 180 Menschen zeitgleich sehen dürfen.
Der Palast des Königs jedoch, er steht bereits, ganz hinten auf der Bühne, nur die Möbel fehlen noch. Über Lears „Land“, einem Haufen Erde, schwebt allerdings noch Hamlets Kugel. Dieses Shakespeare-Stück läuft als Wiederaufnahme. Dass nun beide Kulissen gleichzeitig zu sehen sind, nennt Feldmann „Mischbild“. Vier „Galerien“ hoch reicht der Raum über der Bühne, gewaltig. Von den Galerien aus werden unter anderem die „Verfolger“ bedient, die Scheinwerfer, die Akteure ins rechte Licht setzen. Wenn die denn da sind...
Auftritt verpasst? Es ging auch schon mal ohne Schauspieler
Beatrix Feldmann erinnert sich an eine Vorstellung von „Weekend im Paradies“, in der sie als Souffleuse in der Muschel saß – und vergeblich auf die zwei Schauspieler wartete, die kommen sollten. „Kann eigentlich gar nicht passieren, dass die ihren Auftritt verpassen“, wusste sie. Die Inspizientin, verantwortlich für den reibungslosen Ablauf der Vorstellung, hatte von ihrem kleinen Schreibtisch hinter dem Vorhang die beiden doch rechtzeitig auf die Bühne gerufen. Und ihre Durchsagen sind überall im Theater zuhören. Sogar auf den Toiletten – aber eben nicht auf den Bühnen, nicht einmal auf den Probenbühnen, wo die zwei gerade noch einmal übten… „Wir haben die Szene dann komplett übersprungen. Die Zuschauer haben’s gar nicht gemerkt, denke ich“, lacht Feldmann.
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Tausende solcher Anekdoten kann die 67-Jährige erzählen. 1985 kam sie aus Berlin nach Bochum, im letzten „Peymann-Jahr“, als designierte Assistentin des folgenden Intendanten, Frank-Patrick Steckel. Und seither hat sie nicht nur sechs weitere Intendanten erlebt, sondern auch „jede Menge Theater“. Viel Lustiges, manchmal auch Schlimmes, wie jenen Unfall bei einer Vorstellung der „Kleinen Hexe“. Die Seile des Flugkorsetts, in denen die Hauptdarstellerin hing, hatten sich verheddert. Als sie versuchte, sich selbst zu befreien, knallte sie mit viel Effet und voller Wucht gegen die Kulisse. „Wir hätten die Vorstellung sofort stoppen müssen, als wir merkten, dass es ein Problem gab“, sagt Feldmann. „Aber das heißt ja was, das macht man nicht gern.“ Die kleine Hexe jedenfalls brach sich bei dem Unfall drei Rippen. Ein Krankenwagen brachte sie in die Klinik. Die Vorstellung musste nicht nur unter-, sondern abgebrochen werden...
Keine 30 der 270 Beschäftigten gehören zum Ensemble
Im Malersaal begrüßt uns ein aufgeschlitztes Schwein ohne Kopf, Teil der „Geschichten aus dem Wienerwald“. Es benötigt wohl Hilfe. An den hohen Wänden hängen dutzende Bilder – Abschlussarbeiten der Bühnenmaler, die in Bochum ausgebildet werden. Nach den Vorgaben der Kulissenbauer werden hier zudem Marmor-Wände oder Ziegelmauern, sogar ganze Wälder gefertigt, aus Styropor oder Pappmaché. In Schlosserei, Schreinerei, Polsterei und in der Schneidere tragen andere Handwerker das Ihre zum Gelingen eines Stückes bei. Keine 30 der 270 Beschäftigten des Schauspielhauses gehören zum Ensemble, stehen im Rampenlicht. „Aber auch in den Werkstätten“, betont Feldmann, „wird kreativ gearbeitet!“
Den Möbelkeller haben sie irgendwann in den letzten Corona-Wochen aufgeräumt, stellt Feldmann enttäuscht fest. Nur die Wand mit all den Rezensionen und Steckels „Altar“ – dem sie ihm bauten, als er ging, stehen noch. Mitten in den Kritiken steckt eine Postkarte „Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten“. Und den Altar muss Feldmann rasch fotografieren, bevor auch er noch verschwunden ist. Von 1986 bis 1995 war Steckel Intendant in Bochum, unsere Führerin nennt ihn ihren „Lehrmeister“. An Arbeitstage von neun bis Mitternacht („täglich außer sonntags!“) erinnert sie sich, noch immer ehrlich begeistert; an sehr viel Chaos und daran, dass mal ein Buch in ihre Richtung flog, wenn sie das Rührei für den Meister vergessen hatte…. Doch auch die Zeit mit „Leander“ (Haußmann, Steckels Nachfolger), habe sie „sehr genossen“. Und die mit Johan Simons, dem derzeitigen Intendanten bisher erst Recht. „Der macht Theater genauso, wie ich mir das vorstelle. Gerade in diesen Tagen, in denen wir nicht so können, wie wir wollen.“
Der Lieblingsraum der Frau, die alle kennt
Ein letztes Geheimnis wollen wir am Ende der Führung noch lüften. Hat die Frau, die im Theater jede Ecke kennt, einen Lieblingsraum? Hat sie, antwortet Beatrix Feldmann ohne zu zögern. „Es ist der Zuschauerraum!“
>>>> Saisonstart im September
Der Kartenvorverkauf für alle Vorstellungen im Eröffnungsmonat September (und im Oktober) startet am 1. September um 10 Uhr – online und an der Theaterkasse.
Doch „das neue Normal ist nicht normal“: Wegen der Coronoa-Pandemie gibt es weniger Plätze und keine Gastronomie, bloß Wasser, das dafür aber kostenlos. Und natürlich: gelten im Hause Abstands- und Maskenpflicht.