Bochum/Essen. Ein Bochumer Arzt initiierte die Aufarbeitung der NS-Zeit im Fachverband der Chirurgen. „Ungeheuerlich, was man jüdischen Kollegen antat“ sagt er.
„Lesen Sie dieses Buch“, rät sein Herausgeber, der renommierte Bochumer Mediziner Prof. Hans-Ulrich Steinau. Natürlich. Aber er sagt auch: „Lesen Sie es nicht am Stück. Es ist schwer zu ertragen.“ Und das sind die Geschichten, die für „Die Verfolgten“ zusammengetragen wurden, tatsächlich: Es handelt sich um Biographien jüdischer Chirurgen, die zwischen 1933 und 1945 aus den Listen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie einfach verschwanden.
Die Medizinhistorikerin Rebecca Schwoch recherchierte zusammen mit anderen, was aus diesen Ärzten (nur zwölf Ärztinnen sind unter den 409 Namen) wurde. Manche wurden von der Gestapo unter dem Vorwurf der „Rassenschande“ verhaftet und in Auschwitz ermordet – wie der ehrenwerte Dr. Albert Dreifuss aus Stuttgart. Andere überlebten das Konzentrationslager in Dachau, nur um im Ghetto von Theresienstadt zu sterben – wie Dr. Arthur Dreyer aus Bielefeld. Einige retteten sich ins Exil und mussten dort als gestandene Fachärzte ihr Examen und das unbezahlte Praktikantenjahr wiederholen – wie es Dr. Wilhelm Friedrich Becker aus der Pfalz in den USA erlebte. Dem Essener Arzt Dr. Max Geldern stellten die Nazis einen SA-Mann vor die Praxistür – worauf der 55-Jährige einen Herzinfarkt erlitt. Den Bonner Ordinarius Prof. Karl Adolf Nussbaum ließen sie Straßen kehren – nachdem sie seine Praxis geschlossen, ihm die Lehrbefugnis entzogen und ihn zum Dienst bei der städtischen Müllabfuhr zwangsverpflichtet hatten.
Woher die Narben des Oberarztes stammten? Lange wusste Steinau es nicht
„Es ist ungeheuerlich, was diesen Menschen angetan wurde“, sagt Prof. Steinau. Umso wichtiger, dass sie niemals in Vergessenheit geraten, findet er. 1990 kam der vielfach ausgezeichnete Experte, der auch in Harvard lehrte, aus München nach Bochum („und glauben Sie mir, mir fehlt hier nix!“). Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2011 leitete der heute 74-Jährige die Klinik für plastische Chirurgie und Schwerbrandverletzte am Bergmannsheil, danach arbeitete er als „Senior Consultant“ in der Chirurgie der Essener Uniklinik, seit zwei Wochen ist wirklich im Ruhestand, will endlich mehr lesen, Musik hören und golfen. Und recherchiert doch schon wieder für ein drittes Buch zum Thema.
Denn den „Verfolgten“ ging ein erster Band der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) voraus: „Die Präsidenten“. Steinau war 2006/2007 selbst DGCH-Präsident, 2011 wurde er zum „Senator auf Lebenszeit“ ernannt. Er sei weder Jude noch „linksradikal“, betont er. Doch die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Fachgesellschaft war ihm eine Herzensangelegenheit. Vielleicht, weil er zusammen mit zwei jüdischen Jungs aufwuchs? Oder weil ihm später einer seiner Oberärzte erst nach Jahren der Zusammenarbeit während einer Vortragsreise in Israel anvertraute, woher die Narben auf seiner Haut stammten („Dass er Jude war, wusste ich. Aber nichts von den Schrecken, die er schon als Kind in Polen erlebt hatte.“)? Spätestens, als Steinau feststellen musste, dass in einer 1958 erschienenen Schrift der DGCH kompromittierende Fakten aus der NS-Zeit fehlten, war ihm klar: „Wir müssen unsere Nazi-Jahre beleuchten, ohne Vorbehalte – als Zeichen gegen das Vergessen und Verschweigen.“ Es war nicht schwer, sagt er heute, die anderen zu überzeugen. Einstimmig habe die Fachgesellschaft das Forschungsprojekt beschlossen – und den damit betrauten Medizinhistorikern „völlig freie Hand“ versprochen.
„Was derzeit in Deutschland passiert, war mir erneute Motivation“
Was sie herausfanden, war wenig tröstlich, aber endlich ehrlich: Nach 1933 entledigte sich die Fachgesellschaft eilig ihrer jüdischen und politisch missliebigen Mitglieder. Auf dem Kongress im Jahr der Machtergreifung sprach kein einziger jüdischer Redner. Der spätere „Reichsärzteführer“ Leonardo Conti hatte das zuvor als „Ehrenpflicht“ eingefordert. Und die Präsidenten der DGCH arrangierten sich mit dem Regime. Freudig oder um der Karriere willen die einen, notgedrungen die anderen. „Einige waren ordentliche Nazis, keine Frage. Andere ließen sich vielleicht verleiten. Aber nicht alle jubelten dem Führer begeistert zu. Es war bloß nicht jeder so tapfer wie Otto Krayer.“ Der Pharmakologe war der einzige deutsche Wissenschaftler, der sich öffentlich weigerte, den Lehrstuhl eines von den Nazis geschassten Kollegen zu übernehmen. „Ich habe mich selbst oft gefragt, wie ich gehandelt hätte“, räumt der 1946 geborene Steinau ein. „Ob ich wohl den Mut gehabt hätte, mich zur Wehr zu setzen….“.
2011 erschien „Die Präsidenten“ als Buch. Im selben Jahr erhielt Steinau das Bundesverdienstkreuz am Bande. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung waren „durchweg positiv“, sagt der Mediziner. Doch es sei ihm sehr nahe gegangen, „wie viele Menschen damals mit dem Herzen reagiert haben“, wie viele innige Dankesbriefe ihn erreichten. „Man merkte deutlich, wie sehr das eigentlich gefehlt hatte.“ Der zweite jetzt veröffentlichte Band „Die Verfolgten“ zielt deswegen umso mehr auf die Empathie der Leser: „Keine öden Statistiken, sondern bewusst persönlich gewählte Lebensläufe, die dazu anregen sollen, sich mit dem Thema zu befassen.“ Dass man es tue, sagt Steinau, sei heute „wichtiger denn je“. Was gerade in Deutschland passiere, sei ihm „erneute Motivation“ gewesen.
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933 -1945. Band II: Die Verfolgten; 384 Seiten, 59,90 Euro. Dr. Reinhard Kaden Verlag, Heidelberg
>>>>>Info: Zahlen und Fakten:
1933 gab es laut Wikipedia 52.00 Mediziner in Deutschland. 8000 wurden als Juden verfolgt. Rund 3000 niedergelassene jüdische Ärzte mussten bereits 1933 ihre Praxen schließen.
Viele der Verfolgten emigrierten. Lediglich fünf Prozent von ihnen kehrten nach dem Krieg zurück. Eine große Anzahl derjenigen, denen die Flucht nicht gelang, wurde nach 1941 ermordet.
Insgesamt töteten die Nazis im Holocaust sechs Millionen Juden.