Bochum. Lars H., wegen Kindesmissbrauchs angeklagt, erhielt in der JVA Prozessakten. „Keine Kinderpornos“, wehrt sich das Gericht gegen Kritik.
Ein Richter schickt einem wegen Kindesmissbrauchs Angeklagten Kinderpornos ins Gefängnis – mit dieser „unfassbaren“ Nachricht schockt die Bild-Zeitung am heutigen Mittwoch ihre Leser. Es geht um den Fall Marvin, den „Jungen aus dem Schrank“. Von Juni 2017 bis Dezember 2019 soll Lars H. (45) den anfangs erst 13 Jahre alten Duisburger in seiner Recklinghäuser Wohnung versteckt und missbraucht haben: an die 500-mal, jeden zweiten Tag. Lars H. muss sich deswegen seit Anfang Juni vor dem Landgericht Bochum verantworten.
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Der Vorsitzende Richter der Großen Strafkammer, Stefan Culemann, ist derzeit in Urlaub, doch Michael Rehaag, stellvertretender Pressesprecher des Bochumers Landgerichts, kann erklären, was „passiert“ ist: „Dem Angeklagten sind im Rahmen eines angeordneten Selbstleseverfahrens sogenannte Extraktionsberichte übergeben worden – Aufstellungen von Dateien, die auf Rechnern gefunden wurden.“ Teilweise seien darauf tatsächlich „Abbildungen, die kinderpornografischen Inhalts waren“, zu sehen gewesen, die aber so geschwärzt worden seien, so dass sie rechtlich nicht als Kinderpornografie gelten. „Bilder dürften zudem so gar nicht eingeführt werden, nur Dokumente“, betont Rehaag. Das Selbstleseverfahren sei in anderen Strafprozessen ein durchaus übliches Vorgehen – um die Verhandlungsdauer abzukürzen: „Wenn Sie es etwa in einem Wirtschaftsprozess mit 1000 Scheinrechnungen zu tun haben, und die alle einzelnen vorlesen müssen, werden Sie wahnsinnig.“
Anwältin der Nebenklage: Unbekleidete Kinder in eindeutigen Posen zu erkennen
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Um die Urkunden dennoch ins Verfahren einzuführen, übergebe sie der Vorsitzende Richter allen Prozessbeteiligten – zum Selberlesen. Richter und Schöffen müssen das auch tun, allen anderen muss lediglich die Gelegenheit dazu gegeben werden. Und einem inhaftierten Angeklagten könne man die Unterlagen eben nur ins Gefängnis schicken. „Unrichtig“ ist laut Rehaag, dass der Angeklagte die Unterlagen dauerhaft behalten dürfe. „H. muss sie zurückgeben, aber natürlich muss er mehr als einen Tag Zeit bekommen, sie durchzulesen.“
Rechtsanwältin Marie Lingnau, die Marvin bzw. seine Mutter als Nebenklägerin im Prozess vertritt, sieht das kritisch: „Primäre Geschlechtsteile“ seien auf den Fotos zwar tatsächlich mit schwarzen Balken versehen worden. „Das reicht meiner Ansicht nach aber nicht aus, um ihnen den kinderpornografischen Charakter zu nehmen.“ Sexuelle Handlungen und unbekleidete Kinder in eindeutigen Posen könne sie weiterhin erkennen. „Ich bin der Auffassung, dass Lars H. die Unterlagen unverzüglich zurückgeben müsste.“
Oberlandesgericht hat noch nicht über Beschwerde entschieden
Der Prozess gegen H. stockt im Moment – weil Prozessbeteiligte in Urlaub sind, aber auch, weil das Oberlandesgericht (OLG) Hamm noch immer nicht über eine andere Beschwerde Lingnaus entschieden hat. Die Nebenklagevertreterin hatte beantragt, dass der Junge als Zeuge nur in Abwesenheit des Angeklagten gehört werden, vor allem um eine weitere Traumatisierung zu verhindern. Das Gericht lehnte ihren Antrag ab, dass ein Zusammentreffen mit Lars H. dem Jungen schaden könne, sei nicht erwiesen. „Mit Blick auf die Entscheidung des OLG“ wolle man Marvin dennoch „vorerst“ nicht vernehmen, hatte Richter Culemann nach stundenlanger Diskussion am 6. Juli schließlich verkündet.
Der Fall sei am Dienstag der Generalstaatsanwaltschaft zur Stellungnahme vorgelegt worden, erklärte Matthias Bäumer, stellvertretender Sprecher des OLG Hamm auf Anfrage dieser Zeitung. Bis 11. August habe sie Zeit zu antworten. Vorher sei mit einer Entscheidung kaum zu rechnen.