Essen. Wieso brauchen die Stadtwerke Essen drei Jahre, um 370 Meter Abwasserleitung zu erneuern? Erklärungen gibt es – aber sind sie stichhaltig?
„Machen Sie doch die Überschrift ,Once upon a time’“, witzelt Ingrid Toplick, 82, als sie mit ihrem Rollator glücklich die Baustelle passiert hat. Sie musste ganz schön manövrieren, um Passanten und Radler vorbeizulassen auf dem verengten Bürgersteig – so geht es nun seit bald drei Jahren. So lange benötigen die Stadtwerke Essen, um 370 Meter Abwasserleitung zu erneuern im Herzen von Rüttenscheid.
„Es war einmal“ können wir also noch nicht schreiben, denn erst Ende 2020 soll die Paulinenstraße wieder baustellenfrei sein, wie zuletzt im Oktober 2017. Katrin Lause (29) arbeitet im Seniorenstift St. Andreas und begleitet Frau Toplick: „Der Aufenthaltsraum des Heims liegt nach vorne hin, davor sehen und hören wir oft den Stau durch die Baustelle. Die Fenster sollen ja immer auf Durchzug sein, wegen Corona. Beim Abendessen kann man sich deswegen kaum noch unterhalten. Wir haben viele Menschen mit geteilter Aufmerksamkeit, die verlieren dadurch oft den Faden.“ Auch Frau Toplick findet, dass „die zwischenmenschlichen Beziehungen“ leiden. „Aber wenn es eine Notwendigkeit für diese Arbeiten gibt, was will man sagen?“
Nun, vielleicht ... warum braucht man drei Jahre für ein paar Meter Abwasserkanal?
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„Es hat sich leider vieles anders ergeben als geplant“, erklärt Dirk Pomplun, Sprecher der Stadtwerke. „Hier trifft der Spruch zu: Vor der Schüppe ist dunkel.“ Grundwasser und Fels sind immer wieder aufgetaucht, wo man sie nicht vermutet hatte – trotz aller Sondierungen.
Offenkundig liegt also in der Vorbereitung der Knackpunkt.
Mit Abbruchhammer und Schubkarre
Weil so viele Leitungen quer liegen – Gas, Wasser, Telefon, Datenkabel, Fernwärme – und nicht alle sauber kartiert sind, haben sich die Stadtwerke entschieden, 100 Meter zu untertunneln. Unter der Paulinenstraße entsteht also ein bis zu 2,20 Meter durchmessender Stollen – wie in den frühen Tagen des Bergbaus schuften die Arbeiter mit Presslufthammer und Schubkarre. Wenn sie auf Fels stoßen, kommen sie nur 50 Zentimeter am Tag voran.
Dann bricht auch noch Wasser ein hier und dort. Dann muss ein Brunnen gebohrt werden, um das Grundwasser abzusenken. Was bedeutet: Kampfmittelsondierung, Freigabe, Genehmigungen, Ausschreibung, Vergabe, bohren und drei Wochen pumpen. „Aber wir haben an anderer Stelle weitergearbeitet“, sagt Pomplun. Die Bauzeit hat sich dennoch gegenüber dem Plan mehr als verdoppelt.
Einer dieser Ausnahmefälle
„Man kann nicht pauschal sagen, dass dort Steuergeld verschwendet wird“, gibt Markus Berkenkopf vom Bund der Steuerzahler eine Einschätzung. „Drei Jahre sind natürlich auffällig, aber wenn händisch gearbeitet wird, kann das in Ausnahmefällen passieren.“
„Wenn Sie die Straße komplett sperren würden, ginge es natürlich deutlich schneller“, sagt Pomplun. Doch das ist nicht üblich. Die Baustelle wurde also mehrfach abschnittsweise verlegt, Umfahrungen wurden asphaltiert, Busspuren, Feuerwehrzufahrten, all das.
Für Salvatore Cassaro, Inhaber der Cantina Italiana, bedeutet die Baustelle schlicht „weniger Umsatz“. „Wir haben jetzt mit Corona zu kämpfen und das kommt seit Jahren obendrauf.“ Vor allem die Staus vor den Baustellenampeln machen die Straße unattraktiv. Die Laufkundschaft sei schon lange zurückgegangen, sagt Cassaro. Wenn sich die Gesamtlage nicht bald ändere, werde er wohl schließen müssen.
Und die ausgelagerten Kosten?
Wenn Geschäfte Umsatzeinbußen haben, Autofahrer im Stau stehen und Anwohner Umwege fahren müssen, spricht man von ausgelagerten Kosten. Diese einzubeziehen, „wäre natürlich perfekt“, sagt Berkenkopf. Denn so wäre der Anreiz größer, Baustellen schneller durchzuziehen. „Aber wir können diese Kosten schlecht berechnen. Und ohne gute Datengrundlage kommt man hier zu einer Milchmädchenrechnung.“ Tatsächlich dürfen Städte sie im jetzigen Vergaberecht auch nicht einkalkulieren – was sie aber nicht hindern muss, solche Effekte zu berücksichtigen, indem sie etwa engere Zeitvorgaben machen.
Die Stadtwerke kostet jeder Bautag ohnehin Geld. Rund eine Million Euro waren veranschlagt, bei knapp zwei Millionen wird man wohl landen. „Es nervt“, sagen Anwohner wie Elke S. (56). „Mit dem Auto muss ich immer ganz rumfahren, seit Jahren. Das ist schon heftig. Ich laufe hier jeden Tag zweimal lang – und nie sehe ich Arbeiter.“ – Nie? – „Nie!“ Das liege wohl daran, dass viel unter der Erde gearbeitet wird, erklärt Dirk Pomplun ... In jedem Fall werden die Anwohner der Paulinenstraße nur selten durch die Arbeiten selbst gestört.