Ruhrgebiet. Eine Vollmondwanderung mit Günter Küper über die Halde Hoheward: weniger Romantik als spannende Physik (und zum Schluss doch noch mit Mond).

Der Mond ist aufgegangen, das muss so sein, denn die Sonne ist weg. Untergegangen hinter den Schornsteinen von Duisburg im Westen, also müsste im Osten, irgendwo zwischen Datteln IV und dem Fernsehturm von Schwerte, der Mond… Allein, man sieht ihn nicht. Eben hat es noch geregnet, gegraupelt, der Wind ist stark, aber die Wolken sind schwer. „Das wird nichts“, ahnt Günter Küper, aber er wartet.

Günter Küper, 68, führt an diesem Abend eine Vollmondwanderung ohne Wanderer (wegen Corona) und ohne Vollmond (wegen des Wetters). Oder doch mit Mond: Der Bochumer weiß so ziemlich alles über diesen Himmelskörper. Keine Gedichte, keine Gesänge, nicht den romantischen Kram. Aber wie groß er ist (3470 Kilometer im Durchmesser, „so eine absurde Größe kommt so krass im Sonnensystem sonst nicht vor“) wie schwer er ist (jedenfalls leichter als die Erde, wir sparen uns jetzt die Sache mit Masse und Dichte); wie alt er ist (4,5 Milliarden Jahre, also bloß 30 bis 60 Millionen Jahre jünger als die Erde) und wie er entstand: Es ist die Geschichte des Protoplaneten Theia, der die Erde auf seinem Weg durchs All streifte und glutflüssige Materie in den Orbit schleuderte, wo sie sich quasi „sofort“, also innerhalb von 10.000 läppischen Jahren, zum Mond zusammenballte. So jedenfalls geht eine von vielen Theorien, „die schlüssigste“, wie Küper sagt.

Der Mond entfernt sich jedes Jahr um 3,8 Zentimeter von der Erde

Damals waren sich Planet und Trabant noch nah, 30.000 Kilometer sollen es gewesen sein. Die anwuchsen auf heute mehr als 380.000 Kilometer, und jedes Jahr werden es 3,8 Zentimeter mehr. Sagt Günter Küper und steht da mit seinem Regenschirm über dem Unterarm, die Hände zum Ball geformt: der Mond. So kann er reden über Rotation und Reibung, über Vektorrechnung und den Drehimpulserhaltungssatz. Der Mann ist Physiker.

Vollmond im Juni: Die Indianer nannten ihn auch „Erdbeermond“.
Vollmond im Juni: Die Indianer nannten ihn auch „Erdbeermond“. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Früher, sagt er, als wäre es gestern gewesen, da brauchte die Erde nur zwölf Stunden für einen „Tag“, später 22 Stunden und „in ferner, ferner Zukunft“: Da wird sie vielleicht 1000 Stunden brauchen, und nur noch die Menschen auf der Rückseite der Erde werden den Mond überhaupt sehen (wenn es dann noch Menschen gibt und besseres Wetter ist). Jetzt jedenfalls sieht ein jeder vom Mond immer nur die Vorderseite, weshalb sich Legenden ranken um die „dark side of the moon“, die dunkle Seite des Mondes. Und auch davon nur etwa 59 Prozent.

Gespräche über Klone und Zeitreisen

Nur, an diesem Juniabend auf der Halde Hoheward in Herten, da sieht der Mensch gar nichts. Nichts vom Mond. Wohl das Ruhrgebiet zu allen Seiten, man kann auch fröhliches Städteraten betreiben mit Günter Küper oder Kraftwerke zählen von hier oben. Im vergangenen Jahr, da hatte er einen lauen Sommerabend mit der Wandergruppe, den sie mit Gesprächen über das Universum und die Unendlichkeit füllten. Sie landeten bei Zeitreisen und Klonen, das war eine Mondnacht nach Küpers Geschmack.

Der Mond – ein Vieleskönner

Er kann nicht mal von selbst leuchten, dieser Mond, aber dafür angeblich vieles Andere. Er steuert Ebbe und Flut, leitet die Zugvögel, lockt Schlafwandler. Es gibt Mondkalender und Menschen, die daran glauben, die feste Termine empfehlen für das Haareschneiden, das Lüften der Wohnung, fürs Kochen, sogar das Abnehmen. Die Bauern säen ihr Getreide gern bei zunehmendem und ernten es bei abnehmendem Mond, Angler behaupten, aber vielleicht ist das Anglerlatein, dass zu Vollmond die Fische besser beißen.

Dass Menschen bei Vollmond schlechter schlafen, gilt unter Wissenschaftlern als Gerücht. Vielleicht liegt es aber auch nur am Licht: Bei Vollmond ist der Schlaf leichter, weil weniger Melatonin ausgeschüttet wird.

Nichts mit Erdbeermond, wie die Indianer den Junimond nannten, kein Glutmond – „was darum immer für ein Bohei gemacht wird“! Aber was fasziniert ihn dann so am Mond? „Ach“, sagt der Physiker da, „der fasziniert mich gar nicht so. Mehr Supernovas, Schwarze Löcher, davon könnte ich stundenlang erzählen.“ Nun ist jetzt auch schon mehr als eine rum, Küper schaut kurz auf seine Zettel, „wäre schade, wenn ich was vergesse“, und das Publikum hängt an den Lippen des RVR-Führers.

Ohne Mond gäbe es kein höheres Leben auf der Erde

Führung über die Halde Hoheward: Günter Küper vor dem Observatorium.
Führung über die Halde Hoheward: Günter Küper vor dem Observatorium. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Es ahnte ja nicht, dass der Mond gar keine Augen hat, sondern dass die dunklen Flecken Marias sind, mit der Betonung auf dem ersten A: so genannte Meere und Seen, die gar keine sind, sondern riesige Tiefebenen, durch Meteoriteneinschläge entstanden. Er wusste nichts von einer 30 Zentimeter dicken Staubschicht, von Kalium und Phosphor (vorn), von Eisen und Magnesium (hinten), von Ausgasungen und einer Nachtkälte von 180 Grad minus. Denn schließlich ist es ja doch so: „Wenn der Mond nicht existieren würde, dann wäre höheres Leben auf der Erde wahrscheinlich nicht möglich.“ Wir wären also gar nicht da.

Weil die Laufbahn der Erde nicht stabil wäre, so wie es die des Mondes nicht ist. 300 verschiedene Krafteinwirkungen, sagt Küper, muss der Mond aushalten, von Sonne, Erde und anderen Planeten. „Der torkelt auf seiner Ellipsenbahn.“ Nun, wenn er wenigstens getorkelt käme. Aber dieser Vollmond, er hat einen Hänger irgendwo hinter dem Wolkenband am Horizont, und ohnehin kommt er nicht mehr hoch hinaus so kurz vor der Sommersonnenwende: „Der Mond hat im Sommer die flache Bahn der Sonne im Winter.“

Bye bye Junimond, sang Rio Reiser

Da steht Günter Küper auf dem Berg, der eine Halde ist, der Wind ist kalt und der Mond nicht zu sehen. „Das wird nichts mehr“, sagt der Experte, dabei hätte er den Mond doch gern gezeigt. Wir geben auf. „Bye bye Junimond“, hat schon Rio Reiser gesungen.

Es ist dunkel geworden über Hoheward und erst recht zu ihren Füßen. Und still. Das Theater ist noch geschlossen, die Gastronomie hat Feierabend, auf dem Parkplatz treffen sich ein paar Jugendliche, die Scheinwerfer einer Polizeistreife geben das einzige Licht. Doch da: „Der Mond!“

Tatsächlich hat der Mond gar kein Gesicht

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Plötzlich steht er da über einer Wolke, als hätte er den ganzen Abend nichts anderes getan. Er schaut betont unschuldig, vielleicht ein bisschen spöttisch aus den Augen, die ja Seen sind, wie wir gelernt haben. (Aber haben nicht auch Menschen manchmal Augen, tief wie Seen?) „Das ist Ihre Vorstellung“, sagt Günter Küper, „Sie suchen ein Muster, und dann sehen Sie das auch.“ Nur sind Vorstellungen ja nicht verboten, dieser Mond hat ein Gesicht, ganz eindeutig. Verwundert sieht er zu, wie der Fotograf die Halde wieder emporeilt mit seinem Gepäck. Er wird noch Bilder machen bis Mitternacht, man kann sie sehen auf dieser Seite.

Der Mond ist aufgegangen und andere Gesänge

Der Mond fasziniert die Menschen, seit es Menschen gibt. Er ist ein viereinhalb Milliarden Jahre altes Rätsel, das uns aus 400.000 Kilometern aus dem Himmel anschaut – gütig, sagen die einen, streng, meinen die anderen. Um ihn ranken sich Märchen und Mythen.

„Er“, sagen wir Deutschen und gönnen ihm mit dem „Mann im Mond“ ein bisschen (männliche) Gesellschaft. Was Südländer entsetzt: im Französischen, Italienischen, Spanischen ist der Mond eine „Sie“, steht auch in alten Kulturen für das Mütterliche und Weibliche.

Viele haben den Mond besungen: Johann Wolfgang von Goethe wandte sich „An den Mond“, Giacomo Leopardi „Alla luna“. Heinrich Heine dichtete über den Mond, auch Charles Baudelaire, Martin Mosebach schrieb den Roman „Der Mond und das Mädchen“. Elvis Presley sang den „Blue Moon“ an, Sting den „Moon over Bourbon Street“, Mike Oldfield den „Moonlight Shadow“, und Michael Jackson tanzte lieber, den „Moonwalk“.

Alle haben sie Sehnsucht nach dem Mond, aber nur Neil Armstrong und seine Nachfolger haben ihn erreicht. Und vielleicht noch Münchhausen. Oder Peterchen, Anneliese und Herr Sumsemann („Peterchens Mondfahrt“).

1771 veröffentlichte Matthias Claudius sein „Abendlied“, eines der wohl bekanntesten deutschen Volkslieder, im Vossischen Musenalmanach: „Der Mond ist aufgegangen / Die goldnen Sternlein prangen / Am Himmel hell und klar; / Der Wald steht schwarz und schweiget / Und aus den Wiesen steiget / Der weiße Nebel wunderbar.“

Auf dem Heimweg weist der Mond den Weg, er beleuchtet die nächtlichen, leeren Straßen, erhellt die Autobahn wie eine überdimensionale Laterne. Zuhause wartet er schon über dem Dachfirst. Und er wird treu durchs Schlafzimmerfenster scheinen, die ganze Nacht – bis am anderen Ende des Himmels die Sonne wieder aufgeht.

>>INFO: HALDENWANDERUNGEN

Wegen der Corona-Pandemie gibt es derzeit keine Führungen und Veranstaltungen des Regionalverbandes VR und von RVR Ruhr Grün. Wann sie wieder aufgenommen werden dürfen, ist noch offen. Die RVR-Besucherzentren aber sind seit dem 10. Juni mit Einschränkungen wieder geöffnet. Um das Einhalten der Hygienerichtlinien wie Abstandsregel und das Tragen von Mund-Nasen-Schutz in geschlossenen Räumen wird gebeten. Info: www.rvr.ruhr