Ruhrgebiet. Für Physik, Chemie, Bio sind Experimente im Studium unverzichtbar. Doch die Labore an den Hochschulen sind dicht – Corona. So behilft man sich.

Mausefalle, Schaschlikspieß, Heißklebepistole rein. Tüte zu. Adresse drauf. Und weg damit: Dr. Andreas Reichert packt Päckchen. Ein selbstfahrendes Auto sollen seine Studierenden daraus basteln, damit sie wenigstens zuhause, im „Lab@Home“, experimentieren können. Jetzt, da die Labore der Fakultät für Physik an der Universität Duisburg/Essen (UDE) geschlossen sind.

Die Arbeit im Labor ist für ein naturwissenschaftliches Studium unverzichtbar – doch derzeit an den Hochschulen im Revier nicht möglich. Die Labore sind Corona-bedingt seit März nicht nur in Duisburg und Essen für den Lehrbetrieb dicht. Also behilft man sich mit Online-Vorlesungen, Webseminaren, Lernplattformen, interaktiven Bildschirmexperimenten, Video-Versuchen, oder eben: mit dem Verschicken von Zutaten für die heimische Forscherwerkstatt. Hunderte von Päckchen mit seltsamstem Inhalt (halbe Brillen, olle Nägel) wurden bereits verschickt: Schräge Post vom Prof. Sie kommt gut an. Ersetzt das „echte“ Labor dennoch nicht.

„Manches lässt sich am Computer nicht nachvollziehen“

In Mara Steidings Lab@Home entstand eine tadellos funktionierende Lochkamera, eine Art „Camera obscura“, zusammengebastelt aus einem Karton, einer „Billigbrille aus der Woolworth“ und Stullenpapier. Carmina Herbst baute in der Werkstatt des Nachbarn im zweiten Anlauf („den ersten Besenstiel hab ich kaputtgebohrt“) ein fantastisches Windrad aus Holz. Beide studieren im sechsten Semester Physik und Chemie auf Lehramt. „Physik und Kreativität“ nannte Dozent Reichert den Kurs, in denen er ihnen diese Aufgaben für die Bereiche Optik und Mechanik stellte – noch bevor er wissen konnte, dass die Corona-Pandemie letztere in weit höherem Maß als erwartet einfordern würde.

„Das Haptische und die Teamarbeit fehlen“, sagt Dr. Andreas Reichert. Er unterrichtet angehende Physiklehrer an der UDE
„Das Haptische und die Teamarbeit fehlen“, sagt Dr. Andreas Reichert. Er unterrichtet angehende Physiklehrer an der UDE © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Mara (29) und Carmina (22) haben überzeugende Ergebnisse abgeliefert, ihre Experimente, wie gefordert, mit Videos und Fotos dokumentiert. Lochkamera und Windrad dürfen sie zudem behalten – vielleicht werden sie sie später im eigenen Unterricht benutzen. Und doch vermissen beide den gewohnten Lehrbetrieb. „Wenn wir zusammen im Labor sind, ist das Verständnis für die Fragestellung besser; manches lässt sich am Computer nicht nachvollziehen“, erklärt Carmina. „Teamarbeit zwingt zur wissenschaftlichen Diskussion“ stimmt Andreas Reichert zu.

Was fehlt am meisten? Das Zusammen-Jammern!

Was fehlt noch im Lab@Home? Das „Sich-gegenseitig-in-den-Arsch-Treten“, sagt die eine, „zusammen jammern“ die andere. Carmina gesteht, dass es ihr schwer falle, daheim Disziplin und Motivation aufrechtzuerhalten. „Das fing mit einem Sprint an“, bestätigt Andreas Reichert. Jeder Student, jeder Dozent sei mit Feuereifer gestartet, trotz aller technischen Probleme („mal war das Bild unscharf, dann fiel der Ton aus“); willens, dieses Ausnahme-Semester „zu wuppen“. „Doch nun wird langsam ein Marathon daraus und es immer schwieriger durchzuhalten.“ „Mit Grauen“ blicke er aufs Wintersemester: „Ich bin hundertprozentig überzeugt, dass nach einem Monat die Hälfte der neuen Studenten weg ist, wenn wir bis dahin nicht zurück an der Uni sind.“ Die ersten, typischen Hürden in der Physik („Ich versteh nichts!“) meistere man nur gemeinsam.

Prof. Dominik Begerow, Dekan der Fakultät für Biologie und Biotechnologie an der Ruhr-Universität Bochum (RUB), fürchtet ebenfalls, dass die Abbrecherquote steigen werde: „Ohne konkreten Kontakt zu Materie, Lehrenden und Mitstudierenden“ falle es schwer, sich zu motivieren. Zudem sei der Lernerfolg aufgrund der fehlenden Praxis womöglich schlechter. Und einige, vermutet der Prof, hätten im Homeoffice sicher auch ganz andere Probleme, etwa mit der Kinderbetreuung.

„Die Biologie ist ein sehr haptisches Studienfach“

Von den Laborschließungen sind an der RUB knapp 1500 Biologie-Studenten betroffen – alle. Ohne eigenes Experimentieren geht es auch in dieser Naturwissenschaft nicht. „Die Biologie ist ein sehr

Prof. Dominik Begerow: Handfertigkeit lässt sich nicht digital vermitteln.
Prof. Dominik Begerow: Handfertigkeit lässt sich nicht digital vermitteln. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

haptisches Studienfach“, erklärt Begerow: . Biologen „müssen“ Pflanzen und Tiere anfassen, sie „müssen“ lernen und ausprobieren, wie man eine Pflanze so klein schneidet, dass unter dem Mikroskop etwas zu erkennen ist. „Den intellektuellen Teil der Versuche können die Studenten im Online-Unterricht nachvollziehen. Aber Handfertigkeit lässt sich digital nicht vermitteln.“

„Wir waren überrascht“, erläutert Begerow, „wie viel geht und wie gut vieles geht.“ Vorlesungen, das war schnell klar, „funktionieren sehr gut, selbst mit zwei-, dreihundert Leuten.“ Auch in kleineren Veranstaltungen erlebe er „hohe Akzeptanz und extrem gute Mitarbeit der Studenten“. Nur bei den Praktika eben hakt es. Und das heftig.

„Es wird zwei, drei Semester dauern, das Versäumte nachzuholen“

Was jetzt nicht machbar ist, müsse darum unbedingt nachgeholt werden. Aber das werde „nicht auf die schnelle Tour“ möglich sein. „Es wird zwei, drei Semester dauern, bis das Versäumte kompensiert sei.“

Derzeit sitzt Begerow an den Plänen fürs Wintersemester. Die ersten Studenten aber sollen schon in diesen Tagen – mit viel Abstand und unter strikten Hygienevorkehrungen – in die Labore zurück kehren dürfen. Versuchsweise. Schwierig, das stehe bereits fest, werde es sein, passende Räume zu finden. „In den Praktikanten-Saal, ausgelegt für 120 Personen, darf ich nur noch mit 20 rein...“.

Die digitale Lehre funktioniert, aber bleibt ein Behelf

Man habe „ein elementares Interesse“ daran, dass die Labore geöffnet werden, die Forschung weitergehe, heißt es auch an der TU Dortmund. „Wir haben wegen Corona eine Vollbremsung hingelegt“, erklärt

Martin Rothenberg, Pressesprecher der Technischen Universität Dortmund: „Wir haben eine Vollbremsung hingelegt.“
Martin Rothenberg, Pressesprecher der Technischen Universität Dortmund: „Wir haben eine Vollbremsung hingelegt.“ © Handout | Handout

Pressesprecher Martin Rothenberg. Alle – weit über 100 – Labore der Hochschule wurden geschlossen, alle Praktika abgesagt. Doch die Laborpraxis habe in Dortmund „substanziellen Anteil am Studium“, nicht nur in der Physik, auch für Maschinenbauer und Architekturstudenten. „Wir arbeiten mit Hochdruck an den Hygienekonzepten für unsere Labore“, versichert Rothenberg.

Einige klassische Versuche – etwa den „Affenschuss“ der Physik-Lehre, bei der es um die Überlagerung zweier beschleunigter Bewegungen geht – habe man zum Glück bereits früher als Video produziert, andere gefilmte Experimente besorgen sich die Dozenten über ein Netzwerk der Physik-Fakultäten zum Herunterladen für die eigenen Studenten. Die digitale Lehre funktioniere, sagt Rothenberg, aber sie bleibe ein „Behelf“. „Wenn der Prof da unten steht, es knallt, und der Student fragt: wieso? – das kann sie nicht ersetzen.“