Ruhrgebiet. In der Coronakrise haben Verschwörungstheorien Konjunktur. Wie immer in schwierigen Zeiten. Doch die Märchenerzähler sind auch sehr speziell.

Vor dem Essener Hauptbahnhof standen sie ja gelegentlich schon mal und predigten Umkehr den Gottlosen, die doch nur einkaufen gehen wollten oder zum Zug: „Fürchtet den Herrn!“ Als dann Kneipen schlossen und Geschäfte, da tauchten sie plötzlich auch an Orten auf, wo sie nie zuvor gewesen. Am Kemnader See etwa verteilten sie Handzettel: Die Krankheit sei eine Strafe Gottes. Und das war erst der Anfang. Apokalyptiker und Märchenerzähler haben gerade Konjunktur: „Es wird einmal . . .“

„Menschen sind Sinnsucher, besonders in Zeiten großer Unsicherheit“, sagt Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum: „Was Sie sich erklären können, ist nicht mehr so belastend. Die Angst fährt herunter.“ Auch ganz ohne Gottes Werk und Teufels Beitrag:„Verschwörungstheorien haben rasant Fahrt aufgenommen“, so die Bundeszentrale für politische Bildung.

Eine lange Liste von Mythen und Verschwörungstheorien

Ein Hindu in Neu Delhi gießt Kuh-Urin in einen Becher. Es zu trinken, gilt manchen Hindus als Heilmittel gegen das Coronavirus.
Ein Hindu in Neu Delhi gießt Kuh-Urin in einen Becher. Es zu trinken, gilt manchen Hindus als Heilmittel gegen das Coronavirus. © dpa | Altaf Qadri

Den Chinesen war schon im Januar klar, dass das Coronavirus nur vom US-Militär geschickt sein konnte. In der islamischen Welt glaubten Menschen hingegen, Allah strafe China für seine Behandlung der muslimischen Minderheit. Und auch der Klassiker aller Klassiker trat wieder auf: die amerikanisch-jüdische Weltverschwörung. Die geht immer, auch wenn das Ziel im Dunkeln bleibt: Aber das ist ja gerade die Verschwörung.

Bei der „Gesellschaft zur wissenschaftlichen Erforschung von Parawissenschaften (GWUP)“ hat das Virus einen prominenten Platz auf der Startseite. Es folgt eine alphabetische und nicht übermäßig kurze Liste der Mythen. „Nahezu dieselben Narrative hatten wir vor zehn Jahren während der Schweinegrippe“, heißt es dazu.

Das Coronavirus als Weg, um Rechte und Freiheiten einzuschränken

Stephen King hat es also kommen sehen, Dean Koontz hat es auch kommen sehen: Beide Behauptungen beziehen sich auf Horrorromane mit Krankheitsausbrüchen. Und die blinde bulgarische Seherin Baba Wanga prophezeite es natürlich auch; laut GWUP gehörte sie zu den „Volkssehern, die ihr Unbehagen an Fortschritt und Veränderung in düsterem Geraune artikulierten“. Wie heißt es noch? Die Zahl praktizierender Scharlatane ist immer größer als der tatsächliche Bedarf.

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Aber Baba Wanga ist eine lustige Randfigur, relativ verbreitet ist in Deutschland diese Verschwörungstheorie: Das Coronavirus sei geschaffen worden / werde ausgenutzt, um Bürgerrechte und Freiheiten abzuschaffen. Und zwar nicht für die Dauer der Krise, sondern für immer: „Menschen, die Angst haben, sind leichter zu brechen.“

„Gefühlte oder echte Missstände werden mit geheimen Mächten erklärt“

Der Glaube an eine Art Staatsstreich hatte nochmal zugenommen, als Angela Merkel in die häusliche Quarantäne geschickt wurde – auch sie sollte offensichtlich aus dem Weg geräumt werden. Oder arbeitet es sich, ganz im Gegenteil, zuhause noch besser an der vorletzten Verschwörung, an dem teuflischen Plan, Deutschland abzuschaffen? Ach, man weiß es wieder mal nicht. Interessant ist auch, dass die Verschwörer das ganze Land im Griff haben, aber es nicht schaffen, einen Mann unschädlich zu machen, der ihre Machenschaften mit Flugblättern in der Fußgängerzone enthüllt.

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Das „Sekten-Info Nordrhein-Westfalen“ in Essen hat eine Liste aufgestellt, woran man eine gute Verschwörungstheorie erkennt. Der zentrale Punkt: „Gefühlte oder echte Missstände werden mit der Manipulation geheimer Mächte erklärt.“ Zufälle gibt es nicht in dieser Welt. Wer widerspricht, ist Teil der Verschwörung, korrupt oder dumm. Und dass es keine Beweise gibt, zeigt nur, wie groß die Verschwörung ist.

Auch die Schweinezucht und der Mobilfunk sollen schuld sein

ADas Attentat auf US-Präsident Kennedy 1963 in Dallas ist Gegenstand der wildesten Verschwörungstheorien. Für viele Menschen ist schwer vorstellbar, dass ein verkrachter Einzeltäter dazu in der Lage war.
ADas Attentat auf US-Präsident Kennedy 1963 in Dallas ist Gegenstand der wildesten Verschwörungstheorien. Für viele Menschen ist schwer vorstellbar, dass ein verkrachter Einzeltäter dazu in der Lage war. © dpa | db

Wenn man meint, etwas durchschaut zu haben, dann hängt man auch daran, sagt Jürgen Margraf, der Psychologie-Professor: „Menschen suchen immer Bestätigung und nie Widerlegung.“ Untersuchungen zeigten, dass Verschwörungstheoretiker von der Grundanlage her oft etwas ängstlicher seien. Oder Narzissten, in sich selbst verliebte, sich selbst erhöhende Menschen. Untergruppe eins: „Ich verstehe, was wirklich vorgeht.“ Untergruppe zwei: „Diese Idioten glauben ja wirklich jeden Scheiß.“

Mathias Pöhlmann, der Sektenbeauftragte der evangelischen Kirche in Bayern, hat noch ein paar besonders hübsche Verschwörungstheorien in Zusammenhang mit dem Virus ausgegraben. Im „Sonntagsblatt“ berichtet er von der Erzählung, dass das Virus in der industriellen Schweinezucht entstanden sei: eine Erkenntnis, die die Fleischindustrie natürlich unterdrückt. Auch ein anderer Klassiker ist wieder im Umlauf: Die Menschen sterben am neuen Mobilfunkstandard, also an Strahlen; aber auch diese Nachricht darf nicht ans Licht kommen.

In der Kommentarspalte schreibt ein Leser dazu: „Wahrscheinlich wird es wohl eher sein, dass die Führungen der Welt sich abgesprochen haben. Wenn nach drei bis sechs Monaten alles sich gewöhnt hat, kommt die Wahrheit ans Licht: Es kommt etwas viel Schlimmeres auf uns zu, was die Menschheit zerstören wird.“ Erscheint mir völlig logisch.