Ruhrgebiet. Im April 1945 kapituliert das Ruhrgebiet. Die Monate davor aber zählen zu den Schlimmsten des gesamten 2. Weltkrieges. Zeitzeugen berichten.
Ende März ist es geworden, und langsam wird das Wetter besser in diesem Frühjahr 1945. Aber die Menschen im Ruhrgebiet können es nicht genießen. Im Gegenteil: Sie kommen kaum noch raus aus den Bunkern. Tag und Nacht und mit einer Heftigkeit, die selbst die „luftharten“ Menschen an Rhein und Ruhr nicht kennen, greifen alliierte Bomberverbände die „Waffenschmiede des Reichs“ an. Dabei wird hier in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges kaum noch etwas geschmiedet.
Denn militärisch liegt das Dritte Reich längst am Boden. Aber Amerikaner und Engländer sind vorsichtig geworden seit den blutigen Kämpfen in den Ardennen, vor allem aber seit der Schlacht im Hürtgenwald, bei der rund 35.000 US-Soldaten getötet werden. „Das hat den Amerikanern einen Schlag gegeben“, sagt der Hagener Historiker Ralf Blank, der mehrere Bücher über den Zweiten Weltkrieg im Ruhrgebiet geschrieben hat. Deshalb schicken sie Bomber, um möglichen Widerstand am Boden aus der Luft zu ersticken. „Die Monate Februar und März 1945 waren nicht nur in Westfalen die wohl schlimmste Phase des Luftkriegs“, bestätigt Blank.
In diese Zeit fällt auch der laut BBC „gewaltigste aller Luftangriffe des gesamten Weltkriegs auf eine deutsche Stadt“. Am 12. März werfen über 1000 Bomber fast 5000 Tonnen Bomben auf Dortmund. Der Kern der Stadt, er existiert danach nicht mehr. Und dass es „nur“ 900 Tote gibt, liegt einzig und allein daran dass viele Menschen schon längst geflohen sind. Auch Essen und Witten werden in diesem Monat Ziel schwerster Luftangriffe. Gelsenkirchen, Bochum und Duisburg sind schon im vorausgegangenen Winter in Schutt und Asche gelegt worden.
Tiefflieger machen Jagd auf alles, was sich bewegt
Zusätzlich machen Tiefflieger Jagd auf alles, was sich bewegt. Er habe, schreibt ein Arzt aus Hamm, in seiner Sprechstunde Menschen vor sich, die tage- und nächtelang in Bunkern dahin vegetierten. „Stumpf“ seien sie, „roh und gleichgültig“, „verdreckt und stinkend“.
Zeitgleich mit den Luftangriffen beginnen alliierte Bodentruppen das Ruhrgebiet einzukreisen. Am 7. März ist ihnen die Ludendorff-Brücke bei Remagen nahezu unbeschädigt in die Hände gefallen. Nun ist der Weg über den Rhein frei.
Weiter nördlich setzen Briten, Amerikaner und Kanadier im Rahmen der größten Luftlandeoperation aller Zeiten an einem Tag unter großen Verlusten mehr als 16.000 Fallschirmjäger ab. Beide Verbände sollen das rechtsrheinische Gebiet zwischen Siegen und Dortmund in einer Zangenbewegung einschließen.
Der Kessel schließt sich am 1. April
Der Plan gelingt: Die alliierten Truppen treffen am 1. April 1945, dem Ostersonntag dieses Jahres, in Lippstadt aufeinander. Der Kessel um rund fünf Millionen Zivilisten und mehrere Hunderttausend deutsche Soldaten ist geschlossen – und nach und nach ziehen die Alliierten ihn enger und enger.
So nah ist das Ende des Krieges nun und doch so weit. „Im Kessel herrschte Angst“, beschreibt Blank die Stimmung. Auch weil viele nicht wissen, was sie tun sollen.
Am 19. März hat Hitler seinen Nero-Befehl erlassen. Wo immer die Besetzung durch Alliierte droht, soll die Infrastruktur – Brücken, Tunnel oder Bergwerke – zuvor zerstört werden.
Doch die Kumpel im Revier weigern sich nicht nur, in manchen Städten verhindern sie sogar unter Einsatz ihres Lebens, dass die Zechen gesprengt werden. Sie halten im Gegenteil die Pumpen in Gang, um ein „Absaufen“ der Schächte zu verhindern.
Aber der Nero-Befehl ist nicht die einzige Sorge der Menschen im Ruhrgebiet. Auf Flugblättern warnen die Briten, dass sie beim Einrücken in einer Stadt jedes Haus beschießen werden, aus dem kein weißes Tuch flattert. Auf der anderen Seite befiehlt Reichsführer SS Heinrich Himmler aus der Ferne: „Aus einem Haus, aus dem eine weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen.“
Massenerschießungen bis zur letzten Minute
„So werden die Leute hin- und hergerissen“, schreibt ein Zeitzeuge in sein Tagebuch. Zumal die letzten verbliebenen Nazis im Revier vor nichts zurückschrecken. „Bis unmittelbar vor der Eroberung durch US-amerikanische Truppen fanden zum Beispiel in Wuppertal, Essen, Hagen, Bochum, Dortmund und Warstein zahlreiche Massenerschießungen statt“, weiß der Historiker Blank.
„Mopping Up“ nennen die Amerikaner den Endkampf an Rhein und Ruhr später – ein Aufwischen. „Da war nicht mehr so viel Gegenwehr“, sagt auch Blank. „Aber ein Spaziergang war das trotzdem nicht für die Alliierten“, stellt er klar. An manchen Stellen gibt es noch Widerstand. Er wird allerdings schnell gebrochen. Meist durch die Anforderung von Jagdbombern oder heftigen Artilleriebeschuss.
So fällt dann am Ende auch schnell Stadt für Stadt in die Hände der Amerikaner und Briten. Der Kessel ist noch nicht völlig geschlossen, da sind Bottrop, Herten, Gladbeck und Recklinghausen bereits besetzt. Am 10. April wird Bochum eingenommen, einen Tag später folgen die Städte Essen, Mülheim und Oberhausen. Am 12. April endet der Krieg in Duisburg, am 13. in Dortmund.
Ein Hauch von Frieden weht durch das Ruhrgebiet
Rund 1500 Soldaten hat die Eroberung des Ruhrkessels die US-Army gekostet, weitaus weniger als von alliierter Seite befürchtet worden war. Unter der Bevölkerung und den eingeschlossenen deutschen Truppenverbänden soll es im März und April rund 10.000 Opfer gegeben haben. „Genaue Zahlen sind nicht bekannt“, sagt Blank.
Als die Amerikaner eingerückt sind weht ein Hauch von Frieden durch das Ruhrgebiet. Die Menschen atmen vielleicht nicht auf aber sie atmen durch. „Sie haben die Amerikaner nicht als Besatzer gesehen“, weiß Blank aus vielen Briefen und Tagebucheintragungen, „sondern als Befreier.“