Ruhrgebiet. Tausende Menschen wollen helfen in der Coronakrise. Lebensmittel oder Medizin holen, mit dem fremden Hund raus. Psychologen können das erklären.
Prüfungen fallen aus, Projekte an der Uni sind verschoben, doch zu tun gibt es ja genug da draußen. Schon letzte Woche sind Eva, Melina und Anina, drei Studentinnen in Wohngemeinschaft in Bochum, aus ihrer Wohnung oben im Altbau auf die Straße heruntergegangen und haben etwas getan, was Menschen in ihren jungen Zwanzigern eigentlich nie tun: Sie haben Zettel aufgehängt.
„In dieser Zeit, in der Kindergärten und Schulen schließen . . .“, so beginnt er. Eva, Melina und Anina bieten Hilfe an aller Art. Zum Supermarkt zu gehen, zur Apotheke zu gehen an Stelle derer, die sich nicht mehr hinaustrauen – die Kinder der Anderen zu betreuen, hat sich wohl erledigt in Zeiten von Kontaktsperre. Warum sie das tun? Hilfsbereitschaft. Zeit ist ja auch da, der Beginn des Sommersemesters aufgeschoben. . „Wir als Studierende haben zur Zeit am wenigsten zu verlieren. Wir befinden uns in einer äußerst privilegierten Position, da wir keine großen Existenzängste haben müssen.“ Aber den großen Wunsch, etwas Sinnvolles für die Gemeinschaft zu tun.
Die einzigen Voraussetzungen heißen Gesundheit und Mitgefühl
Da ist gerade eine Welle unterwegs, nein, eine Woge der Hilfsbereitschaft überall im Ruhrgebiet. Die Pfarrei St. Urbanus in Gelsenkirchen sucht Helfer? In kürzester Zeit melden sich 70 Leute. Die Ehrenamtsagentur Gelsenkirchen organisiert Hilfen? So viele Angebote! „Jede Nachbarschaftshilfe ist Gold wert“, sagt ihre Leiterin Beate Rafalski: „Die Bereitschaft, Risikogruppen zu unterstützen, kann man gar nicht genug würdigen.“
So viele sind es, dass man fast keine Namen nennen, niemanden herausheben möchte; die drei Studentinnen möchten auch noch nicht einmal ihre Nachnamen preisgeben: „Wir sind keinesfalls ,Helden’ oder so.“ Aber ohne geht es eben auch nicht. „Ich bin Hausfrau und habe Zeit“, sagt Hildegard Carolus (64) aus Gelsenkirchen einfach. Nun sitzt sie selbst an einem Telefon, wo sich Helfer melden können. Und Katharina Fischer (25), die einer alten Dame die Lebensmittel bringt, meint zur Begründung: „Ich bin jung und gesund.“ Aus einfachen Erklärungen wächst große Hilfe. Die einzigen Voraussetzungen, die man braucht, heißen: Gesundheit und Mitgefühl.
„Das Engagement und die Hilfsbereitschaft sind unbeschreiblich“
Viele sind privat im Einsatz, für sie sind diese Aushänge typisch. „Liebe Nachbarn, aufgrund der aktuellen Situation . . ..“ „Liebe Nachbarn, falls irgendjemand . . .“ In Schaufenstern hängen sie, an Schaltkästen, einfach an der Wand. Hier einer, da einer, und dort schon wieder einer. Der allgegenwärtige Griff zum Papier ist gut begründet, denn die möglichen Hilfesuchenden sind oft in einem Alter, in dem sie nicht bei Facebook wohnen. Im Klartext: Papier, „damit ältere Menschen sich die Nummer abreißen oder aufschreiben können.“
Viele andere engagieren sich in gewachsenen Strukturen. Pfadfinder, Parteimitglieder, die Leute vom Förderverein. Die ewig Engagierten aus der Stadtteilinitiative werden ganz plötzlich viel mehr. „Unsere Drähte laufen heiß. Das Engagement und die Hilfsbereitschaft sind unbeschreiblich“, heißt es bei einer anderen Ehrenamtsagentur.
Unter Gleichen ist die Hilfsbereitschaft besonders groß
Woher kommt so viel Engagement? Es ist typisch für große Not. Die Psychologie bietet dazu zunächst eine Binse an: „Kooperatives Verhalten verschafft den Menschen bessere Aussichten bei der Verteidigung gegen Bedrohungen“, weiß sie. Es gilt aber auch, dass unter Gleichen die Hilfsbereitschaft besonders groß ist, und dieses Virus macht uns so gleich wie lange nichts mehr.
Genauer weiß das Dr. Marlies Pinnow, Motivationspsychologin an der Ruhr-Universität. „Das Motiv ist Anschluss und Bindung“, sagt sie: „In der Gruppe überlebt man länger, das macht die Menschheit evolutionär so erfolgreich.“ Es spreche auch viele potenzielle Helfer an, dass die verwundbare Gruppe der Älteren und Vorerkrankten gefährdet sei. Und, so Pinnow: Hilfsbereitschaft ist ansteckend. „Man ist dann herausgefordert, sich auch so zu verhalten. Das kann zu einer Verbesserung der Gesellschaft führen.“
Das aktuelle Spektrum der Helfer liegt auf der Hand, Stand Dienstag: Einkäufe zu erledigen im Lebensmittelladen, in Drogerie oder Apotheke. Rezepte einzutauschen. Telefongespräche anzubieten für Menschen, die sich allein und isoliert fühlen oder Angst haben. Gassi gehen für Hundehalter, die vielleicht in häuslicher Quarantäne leben.
Hilfsbereitschaft gibt Sicherheit, auch wenn sie nicht gebraucht wird
Die Zahl der Hilfswilligen lässt sich nicht annähernd schätzen, doch fest steht: Sie ist zur Zeit weit größer als die Zahl derjenigen, die Hilfe suchen. „Viele schreiben, dass sie zwar noch keine Hilfe brauchen“, sagt eine Pfarrerin: „Es gibt ihnen aber Sicherheit und Geborgenheit, zu wissen, dass sie da ist.“
Auch Eva, Melina und Alina hatten in den ersten Tagen wenig Resonanz. „Mittlerweile haben sich zwei Leute auf unser Hilfsangebot gemeldet“, steht in ihrer letzten Mail: „Einmal mit der Bitte, Einkäufe zu erledigen, und einmal mit der Bitte, zur Apotheke zu gehen. Liebe Grüße, Melina, stellvertretend für alle.“ Liebe Grüße zurück. Stellvertretend für alle.