Essen. Das Coronavirus wird für Kinderarztpraxen zur zusätzlichen Herausforderung. Kinderarzt Michael Achenbach mahnt Eltern zur Besonnenheit.
Kinderarztpraxen im Stresstest: Zusätzlich zur Grippe- und Erkältungswelle, die gerade durchs Land rauscht, sorgt seit einigen Tagen auch das Coronavirus für großen Beratungs- und Behandlungsbedarf. Michael Achenbach ist Sprecher der Kinder- und Jugendärzte in Westfalen-Lippe, in seiner Plettenberger Praxis dreht sich ebenfalls vieles, aber längst nicht alles um das neuartige Virus. Zwischen zwei Patienten fand er am Freitag Zeit für ein Gespräch mit Torsten Droop.
Herr Achenbach, überlagert die Coronavirus-Debatte den Alltag?
Nein, uns beschäftigt jeden Tag vor allem die echte Grippe. Wir erleben gerade den maximalen Stand. Wir hatten hier im Kreis auch erste Verdachtsfälle in Sachen Coronavirus, sie haben sich zum Glück aber nicht erfüllt.
Wie groß ist die Gefahr, sich in einem Wartezimmer beim Arzt anzustecken?
Sehr groß. Deshalb lautet unsere dringende Empfehlung ja auch, Kranke von Gesunden zu separieren. Es kommen ja viele gesunde Kinder, etwa zur Vorsorge oder einer anderen ganz normalen Untersuchung. Eltern sollten mit ihren kranken Kindern deshalb nicht einfach reinschneien. Das gilt insbesondere auch mit Blick auf Kinder im Wartezimmer, die eine Immunschwäche haben oder an einer schweren Erkrankung wie Krebs leiden. Für sie ist jede Infektion besonders gefährlich.
Aber viele Eltern sind derzeit in Sorge, dass ihr Kind betroffen sein könnte. Sie erwarten Hilfe.
Dafür habe ich Verständnis. Aber Emotionen schalten oft den Verstand aus, und das ist gefährlich, weil es die Ansteckungsgefahr anheizt, wenn kranke Kinder neben gesunden Kindern warten. Draußen an meiner Praxis hängt ein dickes Schild „Vorsicht Grippewelle!“, aber manche Eltern können offenbar nicht lesen. Noch einmal: Mit fiebernden Kindern bitte nicht unangemeldet beim Kinderarzt erscheinen, zumindest an der Tür klingeln! Am besten aber ist ein Anruf, wenn ein ernsthafter Corona-Verdacht besteht. Und in einem solchen Fall zählt nicht der Besuch in der Praxis, sondern der Kontakt zum Gesundheitsamt vor Ort, um die richtigen Schritte einzuleiten.
Schulkinder aber müssen im Krankheitsfall zum Arzt.
Richtig, viele Schulen fordern ein ärztliches Attest, wenn ein Kind krankheitsbedingt ausfällt. Mein Appell an die Verantwortlichen dort ist: Bitte derzeit möglichst großzügig darauf verzichten und den Eltern vertrauen, dass sie den Zustand ihres Kindes richtig einschätzen. Das würde uns Kinderärzte in der aktuellen Lage schon entlasten und das Ansteckungsrisiko vermindern.
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Erleben wir gerade eine Coronavirus-Hysterie?
Ich kann jedem wirklich nur empfehlen, sich im Internet eine Atemschutzmaske zu kaufen (lacht). Nein, ehrlich gesagt, es ist ein Wahnsinn, was gerade passiert und wie die Preise für solche Sachen gerade durch die Decke schießen. Die Verunsicherung der Menschen wird ausgenutzt. Dabei sind die gängigen Basishygienemaßnahmen viel wichtiger, wie zum Beispiel ordentliches Händewaschen. Ich habe zuhause auch ein Stück Kernseife, das genügt. Papiertaschentücher sind Stofftaschentüchern übrigens unbedingt vorzuziehen: Bitte nur einmal benutzen und schnell wegwerfen und ausnahmsweise den Umweltaspekt außen vor lassen.
Ist das Coronavirus für Kinder eine lebensbedrohliche Gefahr?
Meines Wissens nach war unter den ersten 1000 Todesfällen in China kein Kind und nur ein Jugendlicher. Kinder kommen offensichtlich mit dieser Infektion viel besser zurecht als ältere, geschwächte Menschen. Deshalb sind wir durchaus ein wenig besorgt, aber nicht in Panik. Ja, ein Kind kann am Coronavirus erkranken, aber ein schwerwiegender Krankheitsverlauf ist nach bisherigen Erkenntnissen sehr unwahrscheinlich.
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Erwarten Sie eine Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 in Nordrhein-Westfalen?
Dazu muss man keine hellseherischen Fähigkeiten haben. Es wird sich ausbreiten, das ist sicher. Man muss die Situation ernst nehmen. Möglich ist, dass die derzeit ergriffenen Quarantänemaßnahmen sinnlos werden, weil sie den Zweck, die Ausbreitung zu verlangsamen, nicht mehr erfüllen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Wie bewerten Sie das Auftreten von Bundesgesundheitsminister Spahn und das Vorgehen der Behörden?
Ich bin sehr angetan von der Politik. Denken Sie zehn Jahre zurück, als wir die Schweinegrippe hatten. Jetzt gibt es kein Gefühl von Panik, Jens Spahn handelt mit klarem Kopf. Aus meiner Sicht ziehen wir mit der Politik an einem Strang.
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