Essen. Mit 13 begeisterte sich Marcel für Fußball. Ein paar Jahre später ist er „Kat C“, kategorisierter Hooligan. Wie es dazu kam, warum er aussteigt.
Liebevoll hält der Essener Marcel seine Tochter in seinen Armen. Wenige Stunden ist sie erst alt. Niemals, wünscht er sich laut, dürfe ihr etwas passieren: „Papa wird es nicht zulassen, dass dir jemand weh tut.“ Denn was es bedeutet, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, weiß Marcel nur zu gut: Seit über 20 Jahren ist er Fußball-Hooligan. Doch das will er nun ändern.
Hooligans nennt man gewaltbereite Fans, die sich im Vorfeld eines Spiels oftmals gezielt mit gegnerischen Hooligans zu Aufeinandertreffen verabreden. Von der dritten Halbzeit wird da gesprochen, bei der mehr Blut fließen wird als auf dem Platz. Doch: „Es ist nicht mehr so einfach wie früher“, berichtet Marcel leicht wehmütig. „Da sind wir einfach zum Spiel gefahren und haben geguckt, was passiert.“ Und damit meint er nicht das, was auf dem Feld stattfinden sollte. Denn nach den schrecklichen Vorfällen bei der Europameisterschaft 1998, bei denen der französische Polizist Daniel Nivel schwer verletzt wurde von deutschen Hooligans, sind europaweit die Sicherheitsmaßnahmen rund um Fußballspiele erheblich erhöht worden. Nun treffen Gruppierungen weniger zufällig aufeinander, sondern verabreden dies meist im Vorfeld.
„Der Block wurde meine Familie“
Marcel ist gerade mal 13 Jahre alt, als seine Leidenschaft zum FC Bayern München entflammt. „Als Kind im Ruhrgebiets gefielen mir etliche Bundesliga-Mannschaften, ich hatte null persönlichen Bezug nach Bayern, aber die Mannschaft hat mich fasziniert.“ Gebettelt habe er, dass sein Vater mit ihm ins Stadion fährt. Immer öfter möchte er das, und gegen das Versprechen, in der Schule gute Leistungen zu erbringen, darf er schon bald mit Fanclubs aus NRW alleine zu den Spielen fahren, für gerade mal zehn bis zwanzig DM. „Zunächst war ich Supporter“, berichtet Marcel, „trug Kutte und viele Schals, habe die Fahne geschwenkt und bekam immer mehr Rückhalt im Block. Der Block wurde meine Familie.“
Und eine bessere, sagt Marcel, als seine Eigene. Sein Vater erhob oft die Hand gegen die Kinder; sich gegen ihn zu erheben, traute sich Marcel nicht. „Ich war ein Hemd, wog nichts, hatte keine Muskeln - und vor allem kein Selbstbewusstsein, meinem Vater die Stirn zu bieten.“ Also flüchtete er immer mehr in diese Welt, die ihm, wie er sagt, Ehre, Respekt und Zugehörigkeit vermittelte. Und wurde irgendwann vom Supporter zum Ultra. „Man trägt keine Fankleidung mehr, wir hatten Jeans, schwarze Jacken und Kapuze.“ Seine Aufgabe: Bengalisches Feuer ins Stadion schmuggeln und zünden. „Wir Ultras sorgten für Stimmung, gaben den Ton im Block an.“ Doch nicht immer habe das den Verantwortlichen des Vereins gepasst, „es wurde mit Stadionverboten gedroht, aber die sind ja auch auf uns angewiesen“, sagt Marcel.
„Hauptsache, die Nachbarn erfuhren nichts von meinen Festnahmen“
Sein Leben fand nur noch für den FC Bayern statt. Der Alkoholkonsum nahm zu - und ebenfalls die Festnahmen. Sachbeschädigung, Verstoß gegen die Hausordnung, begeistert waren die Eltern nicht - aber ließen ihn gewähren. Marcel beendete die Schule und begann eine Ausbildung zum Lagerist, mehr wollten sie nicht. Was er in seiner Freizeit tue, so Marcel, sei seinen Eltern egal gewesen, „Hauptsache, die Nachbarn erfahren nichts von meinen Festnahmen.“
Immer mehr Bier und Schnaps fließt, je älter Marcel wird. Und dann war dieses Auswärtsspiel nach Holland, erinnert er sich. „Die haben uns provoziert und beleidigt“, erinnert er sich. „Ich war zuvor durch eine Prüfung geflogen, dafür gab’s zuhause Schläge“, so Marcel - und als ihn die gegnerischen Fans anpöbeln, rastet der völlig betrunkene Marcel komplett aus. „Ich schlug einfach zu und es tat gut. Ich vergaß alles.“ Immer mehr Schlägereien folgten, „und ich wollte mehr und mehr. Ich war plötzlich wer, jeder Schlag und Tritt, den ich bekam, machte mich wütender und ich schlug umso mehr zu.“ Aus Marcel, dem Supporter, wurde der Hooligan. Es folgten weitere Festnahmen. „Wir hatten null Respekt vor den Bullen“, so Marcel, „wir kannten einige Zellen schon, und die Polizisten auch uns. Das war schon manchmal brutal, aber da will ich nicht drüber reden.“ Marcel ist von nun an „Kat C“, also ein als Hooligan kategorisierter Fan. „Ich hatte extra Begleitservice bei Auslandsspielen“, ist er fast stolz auf seine Polizeiakte. Egal, in welches Land er für Spiele flog, die dortige Polizei nahm ihn schnell in Empfang. „Manchmal ging es direkt zurück, manchmal unter Beobachtung ins Stadion. War nicht mehr so einfach, also fuhren wir fast nur noch mit dem Bus.“
Nach außen hin führt der Hooligan ein normales Leben
Marcels Leben gerät aus den Fugen. „Ich habe viele Fehler gemacht, hab immer wieder versucht, auf die Beine zu kommen.“ Und immer wieder versucht, eine eigene Familie aufzubauen. Denn nach außen wirkt Marcel alles andere als der harte Schläger. Er ist charmant, hat ein vernünftiges Einkommen, ist beliebt bei den Frauen. Nach Ehe und Kind 1 folgte Ehe und Kind 2, anschließend wurde nicht mehr geheiratet, aber Kind 3, 4 und 5 zur Welt gebracht. „Die ersten Monate war immer alles gut, aber irgendwann wurde mir alles zu viel. Und ich hab viel Scheiße gebaut, bin fremdgegangen - aber eine Frau hätte ich nie geschlagen. Auch nicht im Stadion.“ Nein, sie schlugen ihm dafür die Haustür vor der Nase zu. Kontakt hat er zu keinem seiner Kinder.
Ob denn seine Familie bemerkte, was er in seiner Freizeit tue? „Die haben es nicht sehen wollen“, berichtet der heute 39-Jährige. Selbst als er mal in England so verprügelt wurde, dass er mit gebrochenem Bein und fehlenden Zähnen nach Hause kam, „nahm mir meine Mutter ab, dass ich einfach betrunken aus dem Bus flog.“
Mittlerweile ist Marcel in einer Therapie
Anders sieht das seine jetzige Partnerin, die Mutter seiner Tochter: „Ich habe gesagt, wenn er mit mir zusammen sein will, will ich nicht, dass er jemanden schlägt. Fußball ja, Hooligan nein.“ Zum ersten Mal aber, sagt Marcel, „hat mich jemand gefragt: Warum machst du das eigentlich? Erzähl mir, wie es dazu gekommen ist.“ Frust allein, sagt er, verbinde alle Hooligans, „die kommen aus allen Schichten und aus allen Berufszweigen“, berichtet er über die ehemaligen Freunde. Doch nicht die Schwangerschaft brachte Marcel zum Nachdenken, sondern der Tod eines Familienmitglieds. „Es gibt kaum noch welche in meiner Familie, die etwas mit mir zu tun haben wollten nach den vielen Fehltritten“, sagt er und weint zum ersten Mal. „Doch dann starb meine Großtante, die immer für mich da war.“ Sie lag im Sterben, bat ihn, noch einmal zu kommen. „Und was hab ich gemacht? Bin ins Stadion gefahren.“
Wenige Wochen später stand er an ihrem Grab, „ich hab Rotz und Wasser geheult. Mir war klar, ich bin der größte Arsch der Welt. Und ich wollte es ändern. Zum ersten Mal wirklich.“ Reue, dass er Menschen schwer verletzt hat bei den vielen Schlägereien, hat er nicht. „Wir haben ja keinen vermöbelt, nur weil er einen Schal der anderen Mannschaft trug, wir bleiben ja unter uns.“ Mittlerweile ist Marcel in einer Therapie. Keine Geheimnisse mehr will er haben, nicht vor seiner Frau, nicht vor seiner Familie, doch will anonym bleiben, weil er eine neue Chance für sein Leben sieht. Und seine Tochter? „Ich werde ihr irgendwann erzählen, dass ihr Vater viele Fehler gemacht hat. Und mein größtes Ziel ist es, dass ich ihr sagen kann: Seit deiner Geburt ist dein Papa ein anständiger Mann.“ Sein weiteres Ziel: „Vielleicht schaffe ich es ja auch, irgendwann mit ihr in den Familienblock ins Stadion zu gehen und völlig entspannt zu sein. Ein normaler Fußball-Fan eben.“
>>>Info: Hilfe für Hooligans
Eine zentrale Anlaufstelle für Hooligans, die aus der Szene aussteigen wollen, gibt es nicht. Doch jede Bundesligamannschaft hat eine Fananlaufstelle, an denen es auch Informationen zu diesem Thema gibt.
Auch an die Polizei können sich junge Hooligans vertrauensvoll wenden. Die hat eine eigene Homepage für Hooligans eingerichtet.