Dortmund. Pflegekräfte sind gefragt wie nie zuvor. Doch ihr Job ist einer, der krank macht. Zunehmend auch seelisch. Ein digitaler Engel soll helfen.

Pflege macht krank: Menschen in Pflegeberufen fallen häufiger und länger aus als andere Erwerbstätige, sie nehmen zudem mehr Medikamente als der Durchschnitt. Im jüngsten Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse, für den die Daten von rund 5,2 Millionen Versicherten analysiert wurden, ist das erneut nachzulesen. Was aber auffällt: Es ist nicht mehr „nur der Rücken“, die körperliche Belastung, die Schwestern und Pfleger zu schaffen macht. Die Arbeit geht ihnen zunehmend auch an die Psyche. Ein Engel aus Dortmund soll helfen.

Ein „digitaler Engel“, um genau zu sein.

Am Dortmunder Leibniz-Institut für Arbeitsforschung (IfADo) wurde dieser schöne Titel erfunden für ein Forschungsprojekt, das sich wissenschaftlich korrekt „Assistenzsystem für leichtere Pflegearbeit“ nennt und vom Bund über drei Jahre mit 2,4 Millionen Euro gefördert wird. Beteiligt sind vier weitere Partner: zwei Dortmunder Fraunhofer Institute, eine Klinik in Oldenburg und die Bremer Firma Ubimax. Aber wer dabei an Hightech-Hebe-Technik denkt, mit deren Hilfe Patienten mühelos aus ihren Betten gehievt werden können, liegt falsch. Es geht um eine Unterstützung für die Pflegenden selbst, es geht darum, sie zu bewahren vor psychischer Überlastung, vor einem Burnout im schlimmsten Fall.

100 Krankenschwester und Pfleger werden beobachtet und befragt

PD Dr. Gerhard Rinkenauer vom IfADo mit Datenbrille: Die Brille für die Pflegekräfte wird „unauffälliger und eleganter“ sein, verspricht er.
PD Dr. Gerhard Rinkenauer vom IfADo mit Datenbrille: Die Brille für die Pflegekräfte wird „unauffälliger und eleganter“ sein, verspricht er. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

„Pflegekräfte“, erklärt Dr. Gerhard Rinkenauer (61), am IfADo verantwortlich für den Bereich „Arbeitsgestaltung und Kognitive Ergonomie“, „stehen vor ganz besonderen Herausforderungen, anderen als Arbeitnehmer in der Produktion. Weil sie mit Menschen zu tun haben, Interaktionsarbeit leisten müssen.“ Eine Aufgabe, die kaum gewürdigt werde, „nebenbei wie selbstverständlich erledigt werden muss“, die aber emotional sehr anstrengend sei. Denn nicht nur mit den Gefühlen der Patienten, sondern auch mit den eigenen (Ekel, Ärger, Wut) müssten Pflegekräfte umgehen. Und letztere dürften sie oft nicht einmal zeigen.

Ziel der Studie ist es herauszufinden, welchen psychischen Belastungen Pflegekräfte tatsächlich ausgesetzt sind – und wie ihnen mittels Digitalisierung geholfen werden kann. Im Oldenburger Pius-Hospital starten dazu im Januar zunächst Befragungen, Tagebuch- und Beobachtungsstudien, um den „Ist-Zustand“ zu ermitteln. Mehrmals täglich werden die 100 beteiligten Pflegekräfte dazu unter anderem kurz mitteilen, wie es ihnen geht; außerdem tragen sie Sensoren am Körper, die Blutdruck, Temperatur, Herz- und andere Werte messen: Stressindikatoren. Sind die Ergebnisse ausgewertet, wird überlegt, was zu tun ist: Vielleicht könnte eine kurze Pause im größten Trubel sinnvoll sein oder eine kleine Achtsamkeitsübung? Vielleicht hilft es der vom x-ten schwierigen Patienten gestressten Schwester schon, wenn sie statt ins nächste Zimmer zwischendurch mal Verbandsmaterial sortieren geht? Womöglich kann ein Kollege zur Unterstützung gebeten werden? Der digitale Engel wird, so die Idee der Forscher, einen „Emotions-Notstand“ erkennen, wie ein Assistenzsystem im Auto die Müdigkeit des Fahrers – und individuelle, situationsspezifische Empfehlungen aussprechen, wie er behoben werden kann.

Eine Datenbrille liefert Informationen und Empfehlungen in Stresssituationen

Der „Engel“ versteckt sich dabei in einer unauffälligen Datenbrille, die die Pflegekräfte als „personal device“ tragen, als ihr persönliches Hilfsmittel, mit dem sie Informationen austauschen. Sie ist verbunden mit einer digitalen Plattform, wird über Sprache oder Gesten zu bedienen sein und soll Feedback zur akuten Situation der Pflegekraft liefern, aber auch zum Befinden der Patienten, mit denen sie es zu tun hat. Beispielsweise könnte über die Brille ein aktuelles „Stimmungsprofil“ des Patienten abgerufen werden. „Wenn der Pfleger weiß, der alte Mann in Zimmer A ist heute schlecht drauf, weil die Tochter, auf die er sehnlichst wartet, nicht gekommen ist, hilft das“, erklärt Rinkenauer. Der Pfleger habe dann die Chance, sich auf den Patienten einzustellen, dessen Gefühle zu antizipieren, bevor er das Zimmer betritt. „Aber bei der normalen Übergabe ist keine Zeit, der nächsten Schicht auch noch solche Gefühlsdinge mitzuteilen.“

Wichtig ist dem Informationswissenschaftler, dass die Technik eingesetzt werde, „um Menschen zu unterstützen, nicht um sie in den Wahnsinn zu treiben...“. Die Betroffenen sind darum in allen Stadien des Projekts eng eingebunden. Und die Vorschläge des Engels sollen immer nur Vorschläge, nie Anweisungen sein, aber dafür so konkret wie möglich. „Mach doch mal fünf Minuten Pause in der Karibik“, könnte der digitale Engel etwa empfehlen – und damit den Besuch eines virtuellen Rückzugsraum. Klingt gut. Aber wie werden die Patienten auf Schwestern mit seltsamen Brillen reagieren? Und was wird der Chef sagen, wenn seine Mitarbeiter auf Barbados statt auf Station zu finden sind? „Auch das wird das Projekt zeigen“, sagt Rinkenauer. „Aber wir stellen uns vor, dass es hilfreich sein kann, sich für ein paar Minuten mittels VR-Brillen und Kopfhörer in eine ganz andere Welt zu begeben, eine, die als entspannend empfunden wird.“

Tests im Dortmunder Bettenlabor, anschließend an vier Kliniken

Ob sich bewahrheitet, was sich Forscher so vorstellen, wird nach ersten Tests im Dortmunder Bettenlabor in einer letzten Phase vor Ort evaluiert: am Pius-Hospital in Oldenburg und drei weiteren Kliniken in Dortmund, Münster und Dresden. In Oldenburg freue man sich schon darauf, sagt Rinkenauer. „Uns geht es schließlich nicht darum, Personal einzusparen, sondern es zu halten und es gesund zu halten.“ Im Idealfall, hofft der Forscher, werde der digitale Engel den Pflegeberuf sogar wieder attraktiver machen. Angesichts des schon heute dramatischen Personalmangels in Heimen und Klinikenalso: ein Projekt mit echter Perspektive.

>>>> Pflegenotstand und Projektpartner

23 Tage jährlich fallen Pflegekräfte krankheitsbedingt aus, acht mehr als der Durchschnitt. Dem jüngsten TK-Gesundheitsreport zufolge liegen sie zudem bei der Verschreibung von Arzneimitteln vorn: Altenpflegekräfte erhalten 314 Tagesdosen pro Kopf und Jahr, Krankenpflegekräfte 278. Der Durchschnitt liegt bei 244.

Eine Autorengruppe um K. Jacobs ermittelte im Pflege Report 2019 durchschnittlich sechs Fehltage aufgrund einer psychischen Erkrankung pro Jahr für auf einen ganzjährig versicherten Beschäftigten in einem pflegenden Beruf. Im Schnitt aller Berufe sind es 2,9.

Weitere Projektbeteiligte:

Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik (IML), Dortmund (Federführung)

Pius Hospital Oldenburg

Fraunhofer Institut für Software und Systemtechnik (ISST), Dortmund

Firma Ubimax, Bremen