Düsseldorf/Bochum. Die Bochumerin Derya Ö. ist wegen Unterstützung des IS zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Die Richter hoben den Haftbefehl aber auf.
Im Prozess gegen eine Bochumer Prostituierte hat das Oberlandesgericht Düsseldorf am Dienstag sein Urteil gesprochen: Die 27-jährige Bochumerin wurde zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Allerdings hoben sie den Haftbefehl gegen Ö. auf: Die Angeklagte habe Reue gezeigt und in der türkischen Gefangenschaft ein Trauma erlitten habe. Sie werde eine Therapie machen und an einem Aussteigerprogramm für Islamisten teilnehmen, so der Senat weiter, es bestehe keine Fluchtgefahr.
„Frau im IS“ lautete der Vorwurf gegen Derya Ö., wenn man es kurz macht. Der Generalbundesanwalt benutzte diese Rollenzuschreibung gleich mehrfach, um zu untermauern, dass die 27-jährige Bochumerin zwei Jahre „Mitglied einer terroristischen Vereinigung“ gewesen sei, nicht nur Unterstützerin. Waschen, putzen, kochen - das ist in dieser Argumentation strafbar, wenn es dazu dient, dem Ehemann das Kämpfen zu ermöglichen. Aber Derya Ö. hat auch „Kriegswaffen“ öffentlich getragen. Und sie hat in Syrien Wohnungen genutzt, deren Eigentümer vom „Islamischen Staat“ vertrieben wurden, was als „Kriegsverbrechen gegen Eigentum“ gilt. Doch ihr Fall ist ein besonderer, denn die ehemalige Prostituierte ist einem Mann gefolgt, nicht einer Ideologie.
Verteidiger: "Sie ist vollkommen naiv, deppert da rüber gegangen"
„Als Frau Ö. in den Dschihad zieht, was hat sie dabei?“ Ihr Verteidiger Hannes Linke macht eine Kunstpause. „Zwei Rollköfferchen. Sie ist vollkommen naiv, deppert darüber gegangen und hat irgendwann mitgemacht … Wo ist hier die angemessene Strafe?“
In ihren Plädoyers hatten selbst die Staatsanwälte nur drei Jahre Haft gefordert - neun Monate weniger, als die Kölnerin Mine K. jüngst bekommen hatte, die mit Derya Ö. von der Doppelhochzeit bis zur Flucht soviel teilte. Aber Mine K. war Überzeugungstäterin und machte Propaganda. In den Koffern von Derya Ö. befanden sich Kleider für Kinder, Terrorwerbung oder Gewalttaten sind von ihr nicht bekannt.
Angeklagte betrachtete Prozess als "Hilfe und Neuanfang"
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Als „Hilfe und Neuanfang“ habe sie den Prozess empfunden, las Derya Ö. bei den Plädoyers Anfang Dezember ihr Schlusswort ab. Die Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden, dazu trug sie ein Glitzerreif. Tattoos greifen aus ihrem grauen Kapuzenpulli an den Hals. Sie redete zunehmend schneller, um sich nicht einholen zu lassen von den Tränen, die ihr kamen. Die Bochumerin sprach vom Aussteigerprogramm, von ihren Fehlern, gelobte Reue und brachte ihre Rede im Schluchzen durch. Ihre Mutter war während der Haftzeit gestorben, ihren Sohn hat sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen.
Auch der Staatsanwalt hielt Derya Ö. zugute, dass sie „grundsätzlich geständig und kooperationsbereit“ gewesen sei, selbst wenn sie ihre Rolle kleingeredet habe. Sie sei ihrem Ehemann eben nicht nur gefolgt, sondern habe gezeigt, dass sie Handlungsoptionen gehabt hatte. So habe sie trotz Verbotes Zigaretten geraucht und ein Taxi benutzt.
Ein "wehrhaftes Mitglied des IS"
Negativ fällt nun ein Video-Interview mit der „Bild“ auf sie zurück, in dem sie kokettiert hatte mit Sex im Folterkeller, ihren Schießkünsten („Ich habe lange Arme“), mit den öffentlichen Hinrichtungen, die ihr nichts ausgemacht hätten und eben mit dem Ausführen der Kalaschnikow. Letzteres ist ein verschärfender Straftatbestand, den die Ermittler gar nicht aufgedeckt hatten. Als „wehrhaftes Mitglied des IS“ trug sie dazu bei dessen „Machtanspruch zu demonstrieren gegenüber der heimischen Bevölkerung“.
Sprache und Gestus der Boulevard-Inszenierung wollen nicht passen zu dem „ganz bedauernswerten Tropf“, wie Verteidiger Linke die 27-Jährige beschrieb.
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Auch die Staatsanwaltschaft zweifelte die Version der Derya Ö. nicht an - ihre haarsträubenden Entscheidungen wären sonst noch weniger nachvollziehbar: Die Liebe zum schlagenden Vater ist das Grundmotiv, so stellte es ihr zweiter Verteidiger Detlev Binder dar. Mit 16 wird sie von einem Disco-Bekannten vergewaltigt, festgehalten, geprügelt, gebrochen, zur Prostitution gezwungen. Nach der Flucht ist ihr Selbstwertgefühl fort. Sie entscheidet sich fürs Rotlicht - und verfällt nach nur einem Tag einem Hells Angel, der sie sechs Tage die Woche ins Bordell schickt und ans Kokain bringt.
Erst nach vier Jahren schafft sie den Absprung zu ihrer Mutter. Über Facebook lernt sie Mario S. kennen, der Leverkusener posiert auf Fotos mit Waffen, erzählt ihr im Chat von den leidenden Kindern in Syrien, macht ihr ein schlechtes Gewissen, da sie im Luxus lebe. „Sie suchte irgendetwas, dass ihr Leben rechtfertigt“, sagt Binder. Sie habe „keine eigene Persönlichkeitsstruktur mehr gehabt“. „Liebe bedeutet für sie: Ich gebe mich auf.
An den Haaren durch den Stacheldraht gezerrt
In der Türkei kamen Derya Ö. offenbar doch stärkere Zweifel als bislang bekannt. Das geht aus ihrer Zeugenaussage im Prozess gegen eine andere IS-Braut hervor. Eine Bekannte ihres Versprochenen soll die Wankelmütige schließlich im Februar 2014 an den Haaren durch ein Loch im Stacheldrahtzaun nach Syrien gezogen haben. Diese Frau, genannt Umm Ummah, hätte Mario heiraten sollen, wäre Derya Ö. nicht erschienen - das erfuhr sie später. Auch Mario hatte sie also betrogen und ausgenutzt, noch bevor sie angekommen war.
Er schlug und würgte sie, sie fügte sich, bis sie nach langen Monaten in die Türkei flüchtete. Doch als sie hier erfuhr, dass sie schwanger war, kehrte sie zurück in den Terrorstaat, zu Mario S., der als Militärpolizist und Ausbilder arbeitete. Erst als er das gemeinsame Kind mit ihr zu Boden stieß, verließ sie ihn endgültig.
Selbst dass sie dieses gemeinsame Kind hütete, wurde ihr von der Staatsanwaltschaft als Unterstützung ihres Mannes im Sinne des IS ausgelegt. „Aber allgemeine Haushaltsführung und andere derart neutrale Handlungen“, sagte Verteidiger Binder, „kann man nur als Unterstützung geltend machen, wenn ein ideologischer Hintergrund da ist.“
>> Info: Die IS-Rückkehrer
Mehr als 130 IS-Anhänger aus Deutschland sollen sich in der Türkei, Syrien und dem Irak aufhalten. 95 von ihnen haben einen deutschen Pass. Gegen 33 laufen bereits Verfahren, die Landeskriminalämter schätzen 28 potenzielle Rückkehrer als „Gefährder“ ein und 22 als „relevante Personen“.