Ruhrgebiet. Auch 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Konvention stehen die Kinderrechte noch nicht im Grundgesetz. Dabei drohen dem Nachwuchs neue Gefahren.

Da steht der kleine Junge mit seinem Eimer in der Hand, er redet mit seinem Vater, doch der hört ihn nicht. Er schaut auf sein Smartphone. Solche Situationen, sagt Gerhild Tobergte, Vorsitzende des Duisburger Kinderschutzbundes, über den Cartoon, seien heute täglich zu beobachten: Eltern sprächen nicht genug mit ihren Kindern, und „die fühlen sich missachtet, nicht wertgeschätzt“. Zum 30. Geburtstag der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen am 20. November will Tobergte zeigen: „Auch das ist eine Art der Vernachlässigung.“

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Die Mütter und Väter der UN-Konvention dürften daran 1989 noch nicht gedacht haben. „Kinderrechte sind Menschenrechte“, heißt es darin. Um das „Recht auf Leben“ geht es in den 54 Kapiteln, die 1992 auch in Deutschland ratifiziert wurden, um das Recht auf Entwicklung, Gleichbehandlung, Kindeswohl und ein Zuhause – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Zusatzprotokolle sollen die weltweit 2,3 Milliarden Kinder zudem in bewaffneten Konflikten, vor Kinderhandel und Missbrauch schützen und geben ihnen ein Recht zur Beschwerde, wenn all’ diese Ansinnen nicht eingehalten werden.

Kinder werden im Grundgesetz zwar erwähnt, aber nur als Objekt

Tatsächlich hat sich Deutschland mit der Konvention nicht immer leicht getan. 18 Jahre lang galt der „Ausländervorbehalt“, das ausländische Kinder von den Rechten und Pflichten der Konvention ausschloss. Aber bis heute sind die Kinderrechte noch immer nicht im Grundgesetz verankert, obwohl das lange gefordert wird und so auch im Koalitionsvertrag steht. „Noch immer wird bei Entscheidungen in Politik, Verwaltung und Rechtsprechung das Kindeswohl nicht ausreichend berücksichtig“, kritisiert das Aktionsbündnis Kinderrechte, dem sich unter anderem der Deutsche Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und Unicef Deutschland angeschlossen haben.

„Bislang werden Kinder im Grundgesetzzwar in Artikel 6 erwähnt“, weiß auch Gerhild Tobergte vom Kinderschutzbund. Sie sind dort aber nur Objekt: „Pflege und Erziehung der Kinder“, steht etwa im Absatz 2, „sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“ Auch wenn das Bundesverfassungsgericht entschieden hat: Beides muss sich am Kindeswohl orientieren.

Kinderschutzbund Duisburg will verbindliche Elternberatung

Vernachlässigung beginnt, wenn Eltern nur aufs Smartphone starren: Gerhild Tobergte, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Duisburg.
Vernachlässigung beginnt, wenn Eltern nur aufs Smartphone starren: Gerhild Tobergte, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Duisburg. © Funke Foto Services | DANIEL ELKE

Doch genau hier liege das Problem, sagt Gerhild Tobergte: „Es ist nicht rechtlich verbindlich.“ Man könne etwa die Eltern nicht zwingen, Vorsorgeuntersuchungen zu besuchen. Statistisch kämen nur zwei von drei Kindern zu den U-7-Untersuchungen. Wenn aber nicht frühzeitig auffalle, dass es Defizite im Sprachvermögen gibt, holten das die Kinder nicht mehr auf.

Gerhild Tobergte plädiert dafür, eine verbindliche Elternberatung für Kleinkinder bis zur Einschulung einzuführen. „Es müssten für die Mütter und Väter kurze Wege sein, vor Ort, vielleicht in Gemeindehäusern, und auch durchaus samstags, damit auch Berufstätige hinkommen können.“ Dabei gehe es nicht darum, „sich in die Erziehung einzumischen. Aber manchmal hat man von außen einen anderen Blick auf die Kinder, kann auf weitere Hilfsangebote aufmerksam machen. Vielen Eltern könnte dies auch ein Gefühl der Sicherheit geben.“

„Nicht über Kinder reden, sondern mit ihnen“

Was Kritikern in Deutschland aber vor allem fehlt, ist die Teilhabe. Kinder müssten stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden, um ihre Lebensbedingungen nachhaltig zu verändern, fordert etwa die Kindernothilfe in Duisburg. Das gelte für alle politischen Ressorts, ergänzt Albert Recknagel, Vorstandssprecher des Kinderhilfswerks Terre des Hommes. „Bildung, Familie und Soziales, aber auch Wirtschaft, Verkehr, Städtebau oder Außenpolitik“, vor allem aber auch Klimapolitik und Umweltschutz. Und es betrifft nicht nur die Bundespolitik, sondern auch die Stadt- und Verkehrsplanung vor Ort. „Es ist wichtig, nicht über Kinder zu reden, sondern mit ihnen“, findet auch Maike Röttger, Geschäftsführerin der Organisation Plan International. „Erst wenn Mädchen und Jungen mitbestimmen, können sie Dinge zum Besseren verändern.“

In NRW gilt fast ein Viertel der Kinder und Jugendlichen als armutsgefährdet

Noch immer gelten 2,4 Millionen deutsche Kinder als arm oder armutsgefährdet.
Noch immer gelten 2,4 Millionen deutsche Kinder als arm oder armutsgefährdet. © Funke Foto Services | Lars Heidrich

Nur fangen viele Probleme ja viel früher an. Denn auch das gehört zur Wahrheit über Kinder in Deutschland: 2018 waren laut Statistischem Bundesamt 2,4 Millionen Kinder und Jugendliche (17,3 Prozent) von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. in Nordrhein-Westfalen sind die Zahlen noch schlechter: Hier gilt fast ein Viertel der Unter-18-Jährigen als armutsgefährdet.

Der Kinderrechtsausschuss der UNO in Genf ist nicht nur damit unzufrieden. Deutschland müsse mehr tun gegen Kinderarmut, mehr Geld geben für benachteiligte Kinder und solche mit Migrationshintergrund. Auch brauche es eine zentrale Interessensvertretung für Kinder. Die „National Coalition Deutschland“, ein Zusammenschluss aus 101 Verbänden, schrieb erst im Oktober an die Vereinten Nationen, in Deutschland würden auch 30 Jahre nach Verabschiedung der Konvention „zahlreiche Kinderrechte verletzt“. Moniert wurden Diskriminierung und ungleiche Bildungschancen.

Kinderrechte kosten Geld, aber „wer nicht alles versucht, hat schon verloren“

Vieles habe sich zwar mittlerweile verbessert, sagt Gerhild Tobergte. „Es gibt Frühe Hilfen, unterstützende Angebote für junge Eltern.“ Und dennoch gebe es noch genug Baustellen. Missbrauchsfälle machen Schlagzeilen, „die einen sprachlos machen“, und in der Bildungsarbeit und vorschulischen Betreuung „bleibt vieles in der Planung stecken oder wird zu kurzsichtig entschieden“. Das Deutsche Kinderhilfswerk hat 25 Bausteine entwickelt, die Kinder stärken sollen, darunter sind auch die Absenkung des Wahlalters, Toleranz von Kinderlärm oder Nichtraucherschutz.

Auch der Mülheimerin Tobergte ist klar, dass vieles von dem, was Kindern in Deutschland noch fehlt, Geld kostet. „Aber wer nicht alles versucht, hat schon verloren.“ Und am Ende seien es die Kinder, die auf der Strecke bleiben – und mit ihrem Eimer in der Hand dastehen, sich selbst überlassen.

>>INFO: FAST 100.000 HEIMKINDER IN DEUTSCHLAND

2018 stellten die deutschen Jugendämter bei rund 50.400 der insgesamt 13,6 Millionen Minderjährigen in Deutschland eine Kindeswohlgefährdung aufgrund von Gewalt oder Vernachlässigung fest. Das waren zehn Prozent mehr als 2017, wie die Statistiker zum Internationalen Tag der Kinderrechte am Dienstag erklärten.

In rund 6.200 Fällen nahmen die Jugendämter demnach Kinder oder Jugendliche aufgrund von Misshandlungen vorübergehend in Obhut, in 6.000 Fällen wegen Vernachlässigungen und in 840 Fällen aufgrund von sexueller Gewalt. Zudem ordneten Familiengerichte in rund 7.500 Fällen einen vollständigen und in weiteren 8.500 Fällen einen teilweisen Entzug der elterlichen Sorge an.

95.000 Kinder und Jugendliche waren 2018 im Heim untergebracht. Weitere 81.400 lebten in einer Pflegefamilie, ein Drittel bei Verwandten.