Essen. „Für manche junge Frauen ist das Lippen-Aufspritzen mittlerweile wie ein Friseurbesuch“: Warum ein Essener Schönheitschirurg das kritisch sieht.

Auf Instagram gelten sie als ultimatives Schönheitsideal: Aufgespritzte und extrem voluminöse Lippen werden speziell bei jungen Frauen immer beliebter. Dass der Trend auch viele schwarze Schafe auf den stark wachsenden Markt der ästhetischen Chirurgie bringt, zeigt der aktuell laufende Prozess gegen eine 26-jährige Bochumerin: Sie soll Frauen und Männern illegal die Lippen aufgespritzt haben – mit teils schmerzhaften Folgen. In 35 Fällen muss sich die frühere Beauty-Influencerin nun wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten.

Plastischer Chirurg aus Essen sieht Hype aus Instagram kritisch

Drei der geschädigten Frauen waren zuletzt bei dem Essener Schönheitschirurgen Thorsten Wiens in Behandlung, der die missratenen Lippen wieder richtete. Der 46-Jährige sieht den Lippen-Hype kritisch: „Mit Ästethik haben diese extremen Lippen nach meinem Geschmack nichts mehr zu tun“, sagt Wiens, der Instagram eine Mitschuld gibt: Dort sei ein regelrechter Hype ausgebrochen, der ein unnatürliches Bild vom perfekten Mund zeichne.

„Mir tut die Generation Instagram fast leid, da dort kein Platz mehr für individuelle Ecken und Kanten ist“, sagt Wiens. Junge Frauen zeigten ihm oft Bilder ihrer Vorbilder und wollten genauso aussehen: „Dabei vergessen sie, dass jedes Gesicht seine eigene Proportionalität hat und gerade diese extremen Lippen eben nicht zu jedem passen“, sagt Wiens.

Seit zehn Jahren betreibt der plastische Chirurg gemeinsam mit seiner Kollegin Eva Kusch ein Facharztzentrum an der Rüttenscheider Straße. Auch sie profitieren vom Geschäft mit der Schönheit, verzeichnen ein jährliches Wachstum von etwa 15 Prozent. Wiens bedauert dennoch die Arglosigkeit, mit der gerade junge Frauen ästhetischen Eingriffen gegenüberstehen: „Manche befassen sich mehr mit ihrer Gesichtscreme als mit denjenigen, die ihr Äußeres tatsächlich verändern.“

„Jeder Arzt darf sich Schönheitschirurg nennen, der Titel ist nicht geschützt“

Was viele nicht wüssten: Der Titel „Schönheitschirurg“ sei kein geschützter Begriff: „Jeder Arzt darf sich im Prinzip so nennen“, sagt Wiens, der selbst Facharzt für Plastische und Ästethische Chirurgie ist. Der nach einer tödlich verlaufenen Po-OP in der Kritik stehende Schönheitschirurg aus Düsseldorf etwa sei von Hause aus Internist: „In der Branche ist es für die Patienten oft undurchsichtig, welche Ausbildung der jeweilige Arzt hatte“, kritisiert Wiens.

Thorsten Wiens ist Facharzt für Plastische und Ästethische Chirurgie und betreibt mit seiner Kollegin Eva Kusch seit zehn Jahren eine Gemeinschaftspraxis „Health 2 Beuty“ in Rüttenscheid.
Thorsten Wiens ist Facharzt für Plastische und Ästethische Chirurgie und betreibt mit seiner Kollegin Eva Kusch seit zehn Jahren eine Gemeinschaftspraxis „Health 2 Beuty“ in Rüttenscheid. © Privat | Privat

Deswegen sieht er auch die zunehmende Verbreitung von Ästethik-Ketten kritisch: „Dort schließen die Patienten den Behandlungsvertrag nicht mit einem Arzt sondern mit einer Gesellschaft für beschränkte Haftung ab“, so Wiens. Das Aufspritzen der Lippen mit Hyaluronsäure dauere bei manchem Anbieter gerade einmal 15 Minuten und koste 120 Euro, „wenn die Patientin noch eine Freundin mitbringt“. Auch aus diesem Grund sei die Behandlung für manche junge Frau eher wie einen Friseurbesuch.

200 Menschen weltweit durch fehlerhafte Behandlung mit Hyaluronsäure erblindet

Dabei fehle es gerade bei der Hyaluronsäure oft an Aufklärung über die Risiken. „Durch die falsche Behandlung mit Hyaluronsäure können Gefäßverschlüsse entstehen. Das kann bei Nichterkennen sogar zu Erblindung oder dem Absterben von Körperpartien wie dem Nasenflügel führen“, warnt Wiens. Allein 2018 seien durch die fehlerhafte Behandlung mit Hyaluronsäure weltweit 200 Menschen erblindet. „Fachärzte erkennen solche Komplikationen und können die Säure wieder auflösen. Diese Fehler passieren häufig durch Unwissenheit über die Lage der verschiedenen Gefäße und Hautschichten“, sagt Wiens.

Aktuell dürfen in Deutschland neben Ärzten auch Heilpraktiker mit Hyaluronsäure behandeln. „Ich hoffe“, sagt Wiens, „dass Hyaluron durch eine Änderung des Medizinproduktegesetzes im nächsten Jahr nur noch von Ärzten verwendet werden darf.“ Einen Teilerfolg sieht Wiens in der Einrichtung einer zentralen Stelle, bei der Ärzte beispielsweise Kosmetikerinnen melden können, die illegal mit Hyaluron behandeln. Thorsten Wiens: „Wer ein Gesicht verändern kann, der muss seine Anatomie kennen, das ist das A und O.“

Auch die Bundesregierung hat das Thema auf der Agenda: So wurde zuletzt bekannt, dass Gesundheitsminister Jens Spahn ein erweitertes Werbeverbot auf den Weg bringen will, das Jugendliche stärker vor unnötigen Schönheitsoperationen schützt.